PS im Gespräch mit Y

 

Y: Zwei, drei Infos zu euch, ich hab das nicht so genau mitgekriegt.

PS: Das Thema dieser Ausgabe ist „Genie wider Kollektiv“. Damit beschäftigen wir uns im Rahmen der Literatur- und Kunstgeschichte, und darüber wollen wir auch mit dir reden, weil du ja schon lang auch kollektiv arbeitest.

Y: Gut, dann legt los. Ich antworte, ihr fragt.

PS: Ok. Die allererste Frage: Wie erlebst du den deutschen Literaturbetrieb?

Y: Wenig. Also, ich bin ja eigentlich Regisseur, und wenn ich als Autor was mache, dann ist das oft zu meinen eigenen Diensten. Ich bin quasi der Regisseur, der auch für sich selbst einen Text schreibt, den inszeniert oder verfilmt. Da bin ich relativ entspannt. Ich hatte früher tatsächlich einige Texte fürs Fernsehen geschrieben oder für andere Regisseure – Anfang der Nuller-Jahre, Ende der Neunziger. Das ist sehr unbefriedigend, weil man die Kontrolle bis ans Ende nicht hat. Man denkt, dass in diesen Transfers ein Wissen verloren geht. Wenn man gezwungen ist, Text zu schreiben, muss man viele Dinge entscheiden, und die gehen verloren, wenn man nicht das Konzept des Autor-Regisseurs verfolgt. – Was den Literaturbetrieb anbelangt: ich glaube…

PS: Wir können auch den Theaterbetrieb dazunehmen, weil das ja mehr dein Metier ist.

Y: Genau. Im Literaturbetrieb werde ich nicht als Autor oder selten als Autor wahrgenommen, der in erster Linie Autor ist. Ich würde die Autorenschaft eher breiter fassen, als jemand, der versucht einen Film zu drehen oder ein Stück zu machen. Wo man von der ersten Recherche an bis zum Lichtsetzen oder sogar bis zum Applauslicht-Setzen am Schluss, versucht, die ganze Kette zu begleiten. Und da kommt ja vermutlich eure nächste Frage zum Kollektiv dazu.

PS: Ja.

PS: Ja, fast.

PS: Gehen wir vielleicht noch konkreter auf dich ein: Welche Genies, beziehungsweise welche Kolletive haben dich in deinen Jugendjahren begeistert und beeinflusst, oder welche wären das jetzt?

Y: Ich habe viele Genies oder Kollektive, die mich beeindruckt und beeinflusst haben. Es sind natürlich sehr viele Regisseure, die oft auch Autoren waren, wie Pasolini, Alexander Kluge, dann Intellektuelle, wie Jean Ziegler zum Beispiel, Bourdieu – also es sind Leute, von denen ich sehr viel persönlich gelernt habe, weil ich sie gekannt habe, oder die ich als Konsument kennengelernt habe, wie bei Pasolini der Fall. Und natürlich haben mich besonders Menschen interessiert, das zeigt sich auch in meiner eigenen Arbeit, die zwischen der Figur, die in ihren Texten oder ihrem Werk auftritt, und der Figur, die sie in der Öffentlichkeit sind, die sie politisch sind, keine Unterscheidung machen. Die auf beiden Seiten durchlässig sind. Also kein Autor, der eine unglaublich öffentlichkeitsscheue Person ist, in seinem Werk aber wahnsinnig auf den Putz haut. Ich hatte immer einen starken Bezug zu Leuten, die eher das Gesamte als ihr Werk betrachten – damit will ich nichts gegen hermetische Literatur sagen. Das ist natürlich auch ein bisschen zeitspezifisch. Es gibt Zeiten, wo sehr viel Hermetisches entsteht, wie der Symbolismus Ende des 19. Jahrhunderts. Dann gibt es andere Zeiten, die 20’er/30’er Jahre, z.B. Brecht und solche Autoren, die immer auch Regisseure, die immer auch Politiker waren, die immer auch im Kollektiv gearbeitet haben. Das kann man nicht voneinander abgrenzen. Was Arbeitsformen angeht, lernt man natürlich von vielen Menschen. Natürlich kann man viel von Brecht lernen, wie er gearbeitet hat, oder wie kollektiv er gearbeitet hat. Man kann viel von Pasolini lernen, der länger mit dem gleichen Kameramann zum Beispiel arbeitet, oder mit der gleichen Cutterin oder mit den gleichen Schauspielern. Menschen finden, mit denen man dann immer weiter arbeitet, und das ist bei mir sehr stark der Fall, würde ich sagen. Vermutlich bei jedem. Man muss sich ja einpegeln mit anderen Menschen. Wenn man das mal geschafft hat, dann muss schon was Ernsthaftes passieren, damit man aufhört.

PS: Fallen dir spontan weibliche, beziehungsweise nichtmännliche Genies ein, die dir wichtig sind?

Y: Ja einige. Also ich bin, was das betrifft, zwar lustigerweise – ich weiß nicht woran das liegt, vielleicht weil Frauen sich weniger als Führerfiguren inszeniert haben – aber es gibt extrem viele Autorinnen, die ich sehr mag. Das sind viele Lyrikerinnen, von Anne Sexton bis Sylvia Plath und so weiter. Gut, das sind vielleicht die Klischeefiguren, aber ich war da immer sehr beindruckt, gerade von Anne Sexton. Die Klarheit und Einfachheit ihres Stils. Es gibt auch viele Theoretikerinnen, die mich begleitet haben. Chantal Mouffe beispielsweise – ich weiß nicht, ob euch die was sagt – sie ist eine Politiktheoretikerin, die einiges über meine Arbeiten gemacht hat. Sie hat diese Antagonismustheorie, dass Kunst ein Raum ist, in dem Antagonismen sichtbar werden, die innerhalb der normalen Politik verdeckt werden, was ich oft versuche in meinen Prozessprojekten. Sie war für mich sehr wichtig. Ich hab im Juni wieder ein Treffen mit ihr. Dann gibt es eine Autorin, die mich wegen ihrem Stil… Die vielleicht die Person ist, über die ich früher am meisten geschrieben habe: Patricia Highsmith. Das war immer eine Autorin, die mich extrem beeindruckt hat.

PS: Was an ihr?

Y: Natürlich ihre Romane. Und dann ihre Disziplin, ich habe auch viel über ihr Leben gelesen und sogar einen Essay über sie geschrieben. Über ihre Art zu schreiben. Diese extrem disziplinierte Art und Weise. Die Verschlankung ihres Stils, der sich über die Jahre ergeben hat. Sie hat mich sehr beeindruckt. Eine Beobachtung, die ich grundsätzlich gemacht habe – stärker noch im Studium als später – oft kam mir vor, dass die Fähigkeit von Theoretiker_innen einen Sachverhalt klar darzulegen, seltsamerweise bei weiblichen Autoren irgendwie stärker ausgeprägt ist als bei Männern, bei männlichen Autoren. Also dass man etwas wirklich klar macht. Ich habe komischerweise Lacan das erste Mal in einer Monographie von einer Frau – ich habe ihren Namen vergessen – verstanden. Ich erinnere mich aber noch, dass ich das las und dachte: Ach, so simpel ist das eigentlich, wenn man den ganzen morbiden und düsteren Zug von Lacan rausnimmt und das einfach mal klar macht. Bei Žižek versteht man es im Endeffekt ja auch wieder nicht. Und das fand ich eine Form von Theorie, die sehr angenehm war. Dann hab ich sehr viele – aber das sind eher Leute, mit denen ich arbeite – viele weibliche Theoretikerinnen, wobei ich da den Unterschied gar nicht so so klar sehen würde… Und dann hat man natürlich im Leben sehr viel zu tun mit Künstlerinnen. Mit Schauspielerinnen in meinem Fall. Wo es ja einige Namen gibt: Angela Winkler oder Ursina Lardi. Die ich als Darstellerinnen einfach wahnsinnig beeindruckend finde.

PS: Ja, die war sehr beeindruckend.

Y: Ja.

PS: Die nächste Frage ist ein bisschen allgemeiner: Wofür war die Konzeption des Genies deiner Meinung nach nützlich? Oder im Gegenteil: Was kann das Kollektiv und was ist konstitutiv für ein Kollektiv?

Y: Ich glaube, dass das Genie, als es erfunden wurde – natürlich gibt es den Begriff der „Inspiration“ immer schon, aber in der klassischen Rhetorik ist die Inspiration ein Teil von einem 90-prozentig technischen und traditionsgebundenen Vorgehen – die Idee, dass das Genie ansatzlos erfindet, ist eine Erfindung, sagen wir aus der frühbürgerlichen Phase der bürgerlichen Revolution, wo man gesagt hat, man dekonstruiert jetzt diesen adligen Traditionsbegriff, wo man eine Formpoesie hat, wo irgendein Versmaß eingehalten werden muss, und man gibt dem normalen, menschlichen Empfinden Raum. Dann wird das, was irgendein kleiner Schulmeister wie Lenz oder Goetheschreibt, gleich wichtig wie das, was ein Adeliger schreibt. Das war ein Befreiungsschlag. Man hat das Geniale quasi unabhängig von einem Stand gemacht. Später wurde das dann wieder Zwang. Und zwar in dem Moment, wo dieser Geniebegriff, ohne dass es reflektiert wurde, selbst eine Tradition wurde. Verknüpft mit gewissen Namen, mit gewissen Schreibweisen, mit Produktionsweisen. Dann war die Gegenbewegung des Kollektivs wieder befreiend. Und jetzt haben wir in einer sehr langen kollektiven Zeit gelebt, 50/60 Jahre – vielleicht kann man die ganze Postmoderne als antigenialisches Projekt verstehen – und jetzt merkt man in vielen Bereichen wieder ein Bedürfnis nach Eigentlichkeit, Genialität, Erlebnis, das sich Ausdruck verschafft. Sehr stark zum Beispiel in dieser Flüchtlingsdebatte. Ich merke das im Theater, wo man plötzlich versucht Texte zu finden, die lebensgeschwängert sind. Die auf der Flucht geschrieben wurden, die genialisch sind. Die nicht irgendwie gut sind, weil der in den und den Schreibschulen war, und weil der die und die Tradition kennt und so weiter, sondern die gut sind, weil das ein geborener Autor ist, der das erlebt hat und so weiter. Da sieht man, das geht jetzt auf die andere Seite. In der Malerei gibt es ja wieder das Tableaubild. In der Musik gibt es auch wieder diese Singersongwriter-Idee. All diese Sachen, die wieder zurückkommen. Die sagen: Jetzt will ich wieder den einsamen, empfindenden, äh, Mann. In der Schweiz hatten wir das Phänomen Sophie Hunger, diese Singersongwriterin. Das wurde zehn oder fünf Jahre lang abgefeiert, dann erschienen plötzlich die ersten Artikel, die gesagt haben: Aber eigentlich singt sie gar nicht so gut, eigentlich ist das doch gar nicht interessant, was soll dieser Geniekult?

PS lachen

Y: Man merkt, es geht hin und her, und ich find das absolut nachvollziehbar. Wenn ich wunderschöne Werke gesehen habe, die komplett ausufern, unter Castorf oder so, hab auch ich nachher wieder das Bedürfnis, etwas zu sehen, was eher in einer demokratischen Tradition steht. Wo nicht alle einem Konzept unterworfen werden und wie Marionetten durchhampeln müssen, sondern wo ein Vorgang der kollektiven Freude sichtbar wird.

PS: Wie stehst du persönlich zum Geniebegriff in deiner Kunst? In deinen Interviews switched du ja oft von ich zu wir. Zum Beispiel: Ich habe viele Stücke gemacht, riesige Projekte, die wir machen – aber das Wir wird dann auch nicht näher auseinander genommen.

Y: Ja, das ist im Theater ein sehr seltsamer Vorgang. Man ist einerseits als Regisseurin oder Regisseur die einzige Figur, und das ist auch quälend, die tatsächlich von Anfang bis Ende die ganzen Jahre dabei ist. Gerade im Film ist das extrem. Ich hab die Kameramänner immer beneidet. Die haben keine Konzeptphase, kein Geldsammeln und nachher der Schnitt und all die Scheiße. Die kommen einfach die zwei geilsten Monate, wo du im Kongo unterwegs bist.

PS lachen

Y: Du drehst, hast nur Abenteuer, bist dabei, dann ist der letzte Drehtag und: Tschüss! Hier hast du die vierhundert Stunden Material, und jetzt bin ich weg. Das hab ich immer wahnsinnig beneidet. Gleichzeitig gibt man dadurch Kontrolle ab, weil man in einen komplexen Produktionsprozess erst später hineinkommt. Ich hab einerseits eine zwanghafte Überwachungssucht und auf der anderen Seite eine zwanghafte Inklusionssucht. Das erzählt Ursina Lardi. Meine mehr oder weniger gescheiterten Versuche, sie zu zwingen, ihren Text selbst zu schreiben.

PS lacht

Y: Sie sagt mir dann: Ich weiß davon zu wenig. Das interessiert mich nicht. Meine Intelligenz entfaltet sich auf der Bühne und nicht im Schreibstübchen. Das ist interessant, das wird immer wieder neu ausgehandelt. Im Endeffekt – und das ist die Logik der arbeitsteiligen Arbeit – gibt es durchaus Kollektive, die – wie Gob Squad zum Beispiel, da gibt es auch einige, die sind eher technisch dabei, aber es gibt einen Kern von fünf, sechs Leuten – die jedes Wort untereinander ausmachen. Oder She She Pop. Die jeden Seufzer untereinander ausmachen und abwägen. In meinem Konzept ist es eher ein Hin-und-Her-Gehen, wie du das vorhin beschrieben hast. Zwischen einem stabilen Wir… Es war interessant. Für diesen Preis letzte Woche in Berlin musste ich eine Dankesrede schreiben, und wo endet das, also wenn man dem Team dankt – Moment, ich muss ganz schnell ans Telefon, eine Sekunde.

PS: Das heißt zusammenfassend: Du hast nicht so etwas wie ein stabiles Kollektiv, mit dem du von einem Projekt ins nächste gehst, sondern –

Y: Doch! Die Frage ist halt, wo das endet, auch in der Zeit. Es gibt Miriam, mit der ihr Kontakt hattet, dann zwei, drei Dramaturgen, ein Bühnenbildner, Produktionsleitung und so weiter. Das sind Leute, die Videos machen, das ist wirklich ein Team, das sind sieben, acht Leute, die sind schon fest. Es würde anders auch nicht gehen in der Frequenz. Gerade hat ein neuer Videodesigner angerufen, der ein Projekt mit mir in Zürich am Schauspielhaus fertig macht. In Brüssel habe ich ein Projekt, dieses Kinderprojekt, da habe ich eine Videodesignerin falsch ausgewählt, und das rächt sich extrem. Das ist wie falsches Casting bei Schauspielern, also man hat nur das, was man was hat. Es geht gar nicht darum, ob sie gut oder schlecht sind. Es ist eher, ob man sich versteht oder nicht. Das ist eine Erfahrungsgrundlage. Man beginnt ja mit – keine Ahnung – mit vierzehn, fünfzehn beginnt man die ersten Schülerzeitungen, also die kleinen Aktivistengruppen, da häuft sich dieses Wissen. Welche Netzwerke oder Teams funktionieren und welche nicht und warum. Das hat oft mit den eigenen Beschränktheiten zu tun. Das lernt man dort. Man muss sich seinem Charakter relativ demütig anpassen, den Beschränkungen, die man hat. Ich habe irgendwann anerkannt, dass ich nicht jedes Licht selbst setzen muss oder jeden Schnitt selbst machen. Man lernt abzugeben. Auf der anderen Seite merkt man, an welchen Punkten man – wenn man einen Gesamtprozess moderieren will – wo man dabei sein muss und wo nicht. Peter Zadek, der Regisseur, hat mir einmal gesagt: Der Regisseur ist eigentlich der, der den anderen ermöglicht zu arbeiten. Das ist auch ein Lernvorgang. Man denkt der Regisseur macht nichts, beziehungsweise er macht alles. Aber auf eine seltsame Weise macht er alles und doch nichts. Denn im Endeffekt stehe ich nicht auf der Bühne. Im Endeffekt fahre ich nicht das Licht. Ich bin dann einfach weg. Die Projekte touren ja auch alleine. Es gibt zwar Regisseure, die touren, oder Regisseurinnen – also das könnt ihr dann immer angleichen, ich sag das.

PS lacht


Y: Also die touren mit jeder Station mit, das hab ich früher auch gemacht. Ich dachte paranoiderweise sonst wird die Produktion schlecht. Da lernt man abzugeben und zu vertrauen, und das ist, denke ich, ein normaler Vorgang.

PS: Wir machen einen kleinen Ausreißer von den Fragen bisher, weil wir auch gern wissen wollten – weil uns das auch immer interessiert – wie du/ihr euch denn finanziert. Wie das so am Anfang deiner künstlerischen Arbeit war. Der Verlauf da drin.

Y: Ja, ich habe eigentlich mit 18, 19 angefangen. Dann bis 32, glaube ich, also dreizehn, vierzehn Jahre lang, habe ich mich sonst finanziert. Wir hatten dann wirklich eine Art Durchbruch, und vor sieben Jahren etwa, wurde es plötzlich einfach. Aber das hat natürlich mit allem, was man sich über zehn, fünfzehn Jahre aufbaut, zu tun.

PS: Wo war der Durchbruch?

Y: Also, das erste Projekt, das wirklich international funktioniert hat, war Montana. Da haben wir getourt 2008 oder 2007. Dann kam 2009 Die letzten Tage der Ceausescus und zwischendurch noch zwei, drei Sachen. Da haben die Netzwerke plötzlich begonnen zu funktionieren. Bis du als glaubwürdig erscheinst, das geht einfach seine Zeit. Und wenn man in einem Bereich arbeitet, der öffentlich finanziert ist, wie Film und Theater und überhaupt die ganze Kunst innerhalb Europas, dann ist das Einzige, was du tun kannst, Netzwerke und symbolisches Kapital anzuhäufen. Damit die Leute irgendwann deinen Namen kennen und du dann vertrauenswürdig genug bist. Dann stellen sie dir die nötigen Gelder zur Verfügung, weil sie damit rechnen, dass etwas Gutes dabei heraus kommt. Irgendwann kannst du sogar zwei, drei Dinge machen, die vielleicht nicht so gut sind, ohne dass es gleich wieder vorbei ist. Das dauert lange. Man darf auch keiner institutionellen Logik anheim fallen, also das, was einmal funktioniert hat, ständig wiederholen zu müssen. Das passiert vielleicht 90% der Regisseure, weil sie kein Netzwerk haben, das ihnen ermöglicht, mal ein halbes Jahr zu recherchieren und auszuprobieren. Vor allem, wenn du kein Team hast und immer neu zusammengewürfelt wirst. Das ist ähnlich zu Langzeit-Investitionen. Es gibt Leute, die anfangen mit mir zu arbeiten und mich kennenlernen als jemanden, der diese funktionierende Sache am Laufen hat, während ich mich selber als jemanden kenne, der sich das aufgebaut hat. Und zur Finanzierung: Das ist einfach ein Zusammensetzen aus vielen Quellen. Wir sind ja halb im Stadttheater, halb im freien Bereich, halb im Filmbereich, dann noch ein bisschen im Literaturbereich, dann diese ganzen theoretischen Geschichten… Wir sind da sehr breit dabei. Unsere Projekte sind auch darauf angelegt, im Schnittbereich von zehn verschiedenen Dingen stattzufinden. Wir sind oft zusätzlich in Museen und so weiter. Da geht es darum, die eigene Struktur zu erhalten, anstatt jährlich drei Inszenierungen am Stadttheater zu machen, um sich über Wasser zu halten. Wenn du zu viel am Stadttheater machst – die haben Dramaturgen, die haben Techniker – verlierst du irgendwann dein eigenes Team. So muss man das alles ein bisschen ausbalancieren.

PS: Ist denn deiner Meinung nach die Bildung von Kollektiven mit bestimmten Privilegien verbunden? Also würdest du sagen, es ist ein westliches Phänomen? Stellt es wirklich ein Gegenkonzept zum Geniedenken dar? Du hast vorher bei der Postmoderne angesetzt und gerade wenn du meinst, das verändert sich auch…

Y: Naja, das Verschwinden der Kollektive und das Hervortreten des Genies ist ja im Grunde eine optische Täuschung. Meistens arbeiten die Genies ja mit Institutionen zusammen, wo fünfzig Leute bereit stehen. Also gibt es keinen genialen Film- oder Theaterregisseur. Ob man das Kollektiv nennt, was es real schlichtweg ist –

PS niest

Y: Gesundheit!

PS: Danke.

Y: – Oder ob man das verschweigt und von Genie spricht, ist eigentlich ein linguistisches Problem. Mit jeder Theaterproduktion, jeder Filmproduktion sind hundert Leute befasst, oder fünfzig oder dreißig oder egal, aber es sind zweistellige Zahlen, und das das lässt sich nicht anders machen.

PS: Das stimmt, aber wenn wir jetzt von Ruhm oder Anerkennung reden – kriegen den ja nicht die hundert Leute.

Y: Genau. Aber wie gesagt, ich glaube, das ist eine linguistische Sache. Was den Ruhm angeht, kann man es auch mit Bourdieu symbolisches Kapital nennen. Symbolisches Kapital kannst du nur auf Marken anhäufen, das ist die kapitalistische Regel. Das Einzige, was du als Künstler tun kannst, als Kollektiv, wie auch immer du es nennst, ist, eine Marke wertvoll zu machen. Damit die Leute sie kaufen wollen. Ganz basal ökonomisch gesprochen. Ob das Gob Squad heißt, ob das Volksbühne heißt, ob das Pier Paolo Pasolini heißt, ist im Endeffekt egal. Deren Aufwertung findet statt, indem man zu Kernfusionen kommt. Beispielsweise: Frank Castorf arbeitet mit – und jetzt ein Schauspielername: Isabelle Huppert – an der Nationaloper in Paris. Da hast du drei Marken zusammengeführt. Das ist die äußere Logik, nicht die Arbeitslogik. Da werden einfach aufgeladene Namen herausgehoben, nicht mal unbedingt die wichtigsten. Ich sehe das oft bei Nachwuchsprojekten. Die rufen beispielsweise mich an, ich spreche eine Stunde mit ihnen und dann steht angekündigt: Supervision “Y“. Weil sie das verwenden, um Förderung zu kriegen. Das finde ich absolut legitim. Das mache ich auch immer wieder. Nach dem Motto: Für mich ist es sinnvoll, dort zu arbeiten, nicht weil das der beste Ort ist, sondern wegen der Möglichkeiten als Produktionsort, weil der symbolische Wert, meinem Projekt, das ich machen will oder das wir machen wollen, gut tut. Und so denken die anderen auch. Brecht hat ja diese schöne Beschreibung: Es gibt Stadt A, da liebt man mich, und es gibt Stadt B, da werde ich gebraucht, und ich bin lieber in Stadt B. Das ist eine Arbeitslogik, mit der man sich auch menschlich anfreunden kann. Ich betrachte auch diese Markengeschichte als absurdes Spiel. Nehmen wir eine extreme Marke wie Martin Heidegger – und ich will jetzt nicht auf die schwarzen Hefte oder auf dieses Antisemitismusding hinaus, das ist ja schon wieder speziell – aber die Wahrheit von Martin Heidegger – ich habe gerade eine Biografie über Hannah Arendt und Martin Heidegger gelesen, zufällig in den letzten Tagen – der als Privatperson ist so ein bemitleidenswertes, nichtiges Würstchen. Mit seiner Frau, die total faschistisch ist und ihn brutalst unterdrückt, und dann muss er in diese kleine Berghütte fliehen, damit er dort in Ruhe schreiben kann, aber er muss es zu einem Landleben stilisieren, das es gar nicht ist. Und trotzdem schafft er dieses Werk, das wirklich überdauert. Das ist ja eigentlich verrückt.

PS: Das stimmt.

Y:
Und ich glaube diese Schizophrenie, die ist einfach ein Stück weit anzuerkennen.

PS: Noch eine Frage zum Kollektiven: Ist das kollektive Arbeiten wirklich der beste Ausblick, den wir derzeit haben, wenn Solidarität das Ziel ist? Und ist Solidarität das Ziel?

Y: Das habt ihr vorhin schon angedeutet. Das, was man in Westeuropa Kollektive nennt, ist ja oft nicht die Solidarität zwischen Besitzenden und Besitzlosen, das sind alles Besitzende, die dann, um sich zu verwirklichen, ein Kollektiv gründen. Ich seh das oft bei Clubs von privilegierten Uniabgängern. Das ist ja etwas Fragwürdiges. Wahre Kollektive, die ihr wohl meint, sind für mich immer projekthaft gebunden. Meine ganze Produktionsgesellschaft besteht zum größten Teil aus privilegierten Menschen, die sich zusammenschließen, um tolle Sachen zu machen. Aber das, was man Solidarität nennen könnte, entsteht innerhalb von Projekten. Wenn sich beim Kongotribunal Kongolesen und Leute aus Europa zusammenschließen und sagen: Wir wollen etwas gemeinsam erreichen. Da sind wir quasi in Stadt B. Es bringt allen etwas, man ist solidarisch, weil man eine Sache gemeinsam verwirklichen will. Da verbindet nicht, dass man sich toll findet oder dass man gern zusammen im Proberaum abhängt, sondern weil es eine Sache gibt, an der man solidarisch arbeitet. Das ist die Art von politischem Verhalten für mich. Und ich merke, dass die sogenannten Kollektive das wahrhaft Politische, nämlich das Zusammenführen von unwahrscheinlichen Kollektiven, untergraben. Neulich waren irgendwelche jungen Kunststudenten aus Zürich bei mir in Köln, die meinten: Wir haben ein Kollektiv gegründet, wir gehen im Tessin in diese alte Fabrik. Dort wollen wir einen Monat herumhängen und am Schluss wird etwas herauskommen. Es ist so toll, weil es nicht kapitalistisch ergebnisorientiert ist und bla. Da habe ich gesagt: Ihr könnt aber nicht erwarten, dass ich das auch noch unterstütze und toll finde. Sucht euch ein Ziel, also sucht: Was wollt ihr eigentlich, was ist euer Projekt? Ich glaube, wahre Kollektive sind projekthaft, und das andere ist eine Form von Freizeit, eine Form von elitärer Freizeitgestaltung.

PS: Genau darauf wollen wir hinaus. Wir haben noch zwei Fragen, die uns beide sehr wichtig sind, können wir die noch stellen?

Y: Ja, vorangeschritten.

PS: Ok. Frage eins bezieht sich genau auf das, worüber du gerade angefangen hast zu sprechen: Wie kann man vermeiden, dass das Kollektive das Bestehende nur ein bisschen fairer macht, anstatt einen gesellschaftlichen Wandel zu evozieren?

Y: Ich glaube, dass das Kollektive sein müssen – ich habe das vorher unwahrscheinliche Kollektive genannt – die in der Gesellschaft nicht vorgesehen sind. Denn wie gesagt, dass sich fünf Abgänger von irgendwelchen Kunstunis oder geisteswissenschaftlichen Studien zusammenschließen, um in der Gruppe, keine Ahnung, irgendein lustiger Name: „Skypegroup“ – Projekte, die zwischen zwischen Theater und Multimedialität integrativ angesiedelt sind und der ganze Schwachsinn – das bringt nichts. Das ist wirklich nur die Fortsetzung dessen, was du Gesellschaft nennst. Aber unwahrscheinliche Kollektive – das müssen jetzt nicht Kongolesen oder Russen oder Syrer sein – das meint auch ein Unwahrscheinliches innerhalb, über die Milieugrenzen hinweg. Also ein Projekt, das innerhalb der Gesellschaft nicht vorgesehen ist, obwohl es das geben müsste. Dem Kongotribunal liegt die Frage zu Grunde: Warum gibt es kein internationales Wirtschaftsrecht, wenn wir eine globalisierte Wirtschaft haben? Wie kann das eigentlich sein, dass wir in Nationenbegriffen denken, rechtlich, aber allein dieser Computer, über den ich mit euch spreche, hunderttausend Zulieferer aus aller Welt hat? Wir leben in einer anderen Welt als der, die wir juristisch aber auch ethisch verantworten können. Darum muss man ein Kollektiv gründen, ein Projekt gründen, ein kollektives Projekt, das diese Leerstelle füllt. Utopisches, für das es keinen Ort gibt, in dieser Gesellschaft. Den muss man schaffen durch ein Projekt, durch ein Theaterstück, kann auch ein Sammelband oder ein Kongress oder eine poetische Bewegung oder sonstwas sein – das ist ein Kollektiv. Ein Freund von mir hat beispielsweise eine Partei gegründet in Belgien, wo er arabische und kongolesische Einwandererverbände zusammengeführt hat. Meines Erachtens werden die postnationalen, transnationalen Migrantenparteien das Projekt, das politische Projekt, der Zukunft. Die haben auf einen Schlag die Mehrheit – nur, wenn sie den gegenseitigen Rassismus der Araber gegen Schwarze und der Schwarzen gegen Araber überwinden. Und das war bei all diesen Bewegungen zu beobachten: Sobald sich ein Kollektiv herausgebildet hat, das unwahrscheinlich war… Also, ich hab in Erinnerung, dass ihr eine feministische Zeitschrift seid – wenn man die simple Qualität über die Milieuschichten hinweg, dass man als Frau in einer gewissen Wiederholbarkeit der Unterdrückung lebt, egal ob man jetzt eine Kongolesin ist oder Susan Sontag – wenn man das Elitärste mit dem wirklich Deklassiertesten zusammenbringt in einer Abstraktion, und sagt: Was wäre, wenn diese Menschen sich zusammenschließen? – Dann hat man ein unwahrscheinliches Kollektiv. Und ich glaube, das ist es, was für mich der Sinn des Kollektivbegriffs ist. Aber aktuell ist es einfach eine Form gemeinsamen Abhängens geworden, vor allem im Theater, muss man leider sagen. Vielleicht auch ein Wunsch von hierarchiefreiem Arbeiten, das finde ich alles toll, aber darüber hinaus geht nichts.

PS: Ok, dann kommen wir zur letzten Frage: Du sagst in einem deiner Interviews: „Man muss der Tatsache ins Auge schauen, dass wir keiner Tatsache ausgeliefert sind“. Mich hat das beschäftigt, und ich habe mich gefragt: Siehst du das wirklich so? Warum meinst du das? Und wer ist das Wir in dem Satz?

Y: Ja, ich hab das Interview nicht mehr vor Augen. Aber was ich damit meinte: Oft haben Leute gesagt, beispielsweise im Kongotribunal oder in den Moskauer Prozessen: Sie denken, es gibt einen Grund, dass die Dinge sind, wie sie sind, und dass dieser Grund über die Konstruiertheit des Tatsächlichen hinausgeht. Aber wenn man anerkennt, dass es überhaupt keine Tatsachen gibt, und ich spreche nicht vom biologischen Tod, nicht von biologischen Tatsachen… Es gibt ja einen lächerlichen Poststrukturalismus, der biologische Tatsachen abstreitet. Das führt zu nichts, das führt nur zur Verleugnung von beispielsweise Rasse und Nation, und am Schluss hat man dann plötzlich den Neorassismus, den Neonationalismus, und man wundert sich, woher das alles kam, weil man es ja gerade wegerklärt hat. Das ergibt keinen Sinn, das muss man in die Argumentation aufnehmen, aber auf der anderen Seite, wenn jemand kommt und sagt: Dieses Tribunal wird nie stattfinden, weil es einen Grund gibt, dass kein internationales Wirtschaftsrecht existiert – wir haben ja mit dem Gründer von Den Haag zusammengearbeitet, von diesem internationalen Gerichtshof, das ist eine absolut anerkannte Institution seit etwas mehr als zwanzig Jahren – und der meinte auch, als sie die Idee hatten, diesen Gerichtshof zu gründen, haben alle gesagt: „Ihr seid wirre Träumer, das wird es nie geben!“ Zwei Jahre später gab es ihn. Unterstützt von der UNO, mit einem Budget von einer Milliarde.

PS: Krass.

Y: Es ist also die Erkenntnis, dass alles machbar ist. Und zwar sowohl im Bösen, wie im Guten. Aber ich war immer erstaunt, wie schnell und wie einfach die Dinge zu verändern sind. Sofern man die Gemachtheit des Tatsächlichen als Fakt annimmt. Gut, das hat damit zu tun, dass ich bei Bourdieu studiert habe und mich Soziologe natürlich immer… also wenn es einen Grundsatz der Soziologie gibt, dann ist er, die Wirklichkeit ist konstruiert und gemacht, von den Menschen.

PS: Das ist doch ein guter Schlusssatz.

Y: Stimmt.

Lachen

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