Genie wider Kollektiv

 

Personen:
Chor (teilt sich später in den Chor der Genies und den Chor der anderen)
Hund
Schiedsrichterin
Nummernboy
Individuum
Günstling
Kommentatorin
Griechische Großmutter
Albert Einstein (Genie)
Wolfgang Amadeus Mozart (Genie)
Heiner Müller (Genie)
Henry David Thoureau (Genie)

 

Die Bühne ist ein Boxring. Der Boxring ist quadratisch. Der Kampfbereich wird von drei oder vier Seilen umspannt, die jeweils drei bis fünf Zentimeter stark sind und in den Höhen 40 – 80 – 130 Zentimeter hängen. Der Bodenbereich außerhalb der Seile ist mindestens 50 Zentimeter breit. Der Ringboden ist elastisch und mit einer Zeltplane bespannt. In den Ringecken befinden sich Eckpolster, von denen eines rot, eines blau und zwei weiß sind. Der Hund liegt am Rand. Während des gesamten Boxkampfes verlässt niemand den Ring.

 

Kommentatorin:
So, alles ist in Position. Die Quantenverschränkung. Wird die schon in der Schule erklärt? Nein? Egal, ich fasse es kurz zusammen. Die Quantenverschränkung.
Photonen, die von einer gemeinsamen Lichtquelle ausgehen, werden in entgegengesetzter Richtung nach ihrer Polarisation, einem Merkmal, gefiltert und gemessen. Die Richtung des Filters wird erst so spät zufällig gewählt, dass selbst mit lichtschnellen Signalen bei der anderen Messung, nichts davon zu wissen wäre. Trotzdem bedingen sich die Ergebnisse untereinander. Elektromagnetische oder andere Felder können diese Erkenntnis der modernen Quantenphysik nicht erklären, denn sie breiten sich maximal mit Lichtgeschwindigkeit aus.
Pause. Sieht sich um.
Was bedeutet das? Zum Beispiel, dass ein dynamisches Gefüge auf nichtreduzierbare Weise vom Zustand des gesamten Systems abhängt, welches wiederum durch den Zustand größerer Systeme beeinflusst wird und letztenendes mit dem gesamten Universum zusammen hängt. Ergebnisse sind nicht vor einer Messung definiert. Das führt zu einer Vorstellung, die der klassischen Idee von Zerlegbarkeit oder Lokalität widerspricht. Nichts breitet sich schneller aus als Lichtgeschwindigkeit , das bedeutet, durch räumliche Trennung können sich Informationen nicht unmittelbar auswirken. Licht benötigt wenigstens 15 Milliarden Jahre, um vom Rand des Universums bis zu uns zu gelangen. Gleichzeitig behauptet die Quantenmechanik, dass das Geschehen im Weltall augenblicklich alle Teilchen im Universum beeinflussen kann. Also muss es einen Kommunikationsweg geben, der spontan, ohne jeglichen Zeitverzug, funktioniert. Versteht ihr?

Lange Pause.

Albert Einstein:
Aber die Schlupflöcher! Die verborgenen Variablen!

Griechische Großmutter & Chor:
Papperlapapp!

Hund:
Trinken. Essen. Schlafen. Pissen.
Alle ignorieren den Hund.

Der Nummernboy hält das erste Schild hoch: DER SCHMETTERLINGSEFFEKT.

Die Kommentatorin nickt begeistert. Der Hund gähnt. Einstein verlässt noch schnell den Ring. Wolfgang Amadeus Mozart, Heiner Müller und Henry David Thoreau gehen in die rote Ringecke und unterhalten sich. Die griechische Großmutter sitzt in der blauen Ringecke und isst ein Butterbrot. Der Günstling weiß nicht wohin. Die Schiedsrichterin hält unschlüssig ihre Trillerpfeife in der Hand.

Griechische Großmutter:
Wozu erzählst du das? Ich will einen Kampf sehen. Einen Kampf!

Kommentatorin:
Aber. Der Schmetterlingseffekt. Aber: Die Quantenverschränkung liegt vor, wenn der Zustand eines Systems aus zwei oder mehr Teilchen nicht mehr als Kombination unabhängiger Ein-Teilchen-Zustände beschreibbar ist. Ein gemeinsamer Zustand. Dies führt zur Vorstellung eines Zusammenhangs, die der klassischen Idee von der Zerlegbarkeit der Welt in getrennte und unabhängig existierende Teile widerspricht.

Griechische Großmutter:
EINEN KAMPF!!

Die Kommentatorin geht gesenkten Hauptes in eine weiße Ecke. Die Schiedsrichterin pfeift. Der Nummernboy sucht rasch nach einem passenden Schild, hält es hoch: FÄHIGKEIT GEGEN UNFÄHIGKEIT und legt sich schlafen.

Griechische Großmutter:
Klatscht. Na endlich!

Kommentatorin:
Um die Gegner_innen einzuführen: Ohne die Unfähigkeitsvorstellung ist die Begabungsvorstellung nicht denkbar.

Günstling:
Was soll das jetzt heißen?

Chor (es ist nicht ersichtlich, wer bei dem Chor mitspricht):
Allen Begabungsvorstellungen ist gemein, dass sie von Begabung als einer vorherbestimmenden und transzendenten, zum Beispiel durch Gott oder Gene, determinierten Entität ausgehen. Darum wird das Individuum durch spezielle Begabungen bzw. Unfähigkeiten und deren determinierte Konsequenzen, in einer ohnmächtigen Unterwerfung gegenüber dem Schicksal orientiert: Da Begabungen nicht geändert werden können, müssen Entscheidungen im Bereich individueller Lebensgestaltung den Begabungen bzw. Unfähigkeiten angepasst werden.

Individuum:
Wollt ihr damit…

Chor:
Die Begabungsvorstellung ist Gegenstand soziologischen Interesses, denn sie ist ein kulturspezifisches Phänomen. Es gibt Gesellschaften, in denen die Begabungsvorstellung Teil des sozialen Deutungsmusters der Menschen ist, während in anderen Gesellschaften den Mitgliedern die Begabungsvorstellung fremd ist.

Günstling:
Ach ja? Wo denn?

Chor:
Völker wie die Anag Ibobo, die !Kung und andere nomadische Kulturen kennen keine Wörter wie: ‚Unfähigkeit’ ‚dumm’ ‚unintelligent’ oder ‚Genie’.

Günstling:
Na. Das wundert mich jetzt aber nicht.

Moderatorin:
Wie bitte?

Der Günstling zuckt mit den Schultern.

Hund:
Kacken. Schnüffeln. Laufen. Apportieren. Gelobt werden. Gestreichelt werden. Dazu gehören.

Chor:
Die Gesellschaftsspezifik der Begabungsvorstellung indiziert, dass die Begabungsvorstellung nicht Teil der conditio humana ist, sondern lediglich Teil gesellschaftlicher Deutung der conditio humana.

Individuum:
Muss ich darüber nachdenken?

Wolfgang Amadeus Mozart:
Ich konnte mit drei Jahren schon alles! Alles!

Individuum:
Eifersüchtig. Ach ja?

Wolfgang Amadeus Mozart:
Ja, wirklich. Konnte ich. Mhm. Manchen wird es eben gegeben.

Der Günstling sieht Wolfgang Amadeus Mozart bewundernd an.

Chor:
Wir werden nicht geboren mit der Fähigkeit, krank zu werden oder uns entgegen den eigenen Möglichkeiten unterwerfen zu müssen; wir werden nicht als pathisches Mängelwesen geboren.

Individuum:
Hörst?

Wolfgang Amadeus Mozart:
Ich konnte alles.

Kommentatorin:
So, danke, Wolfgang. Aber er übersieht, dass gerade die Musik eigentlich bewiesen hat, dass dem nicht so sein kann.

Griechische Großmutter:
Deutsch uns nicht voll hier! Ich will einen Kampf und keine brechtsche Belehrungsscheiße.

Individuum:
Jetzt lass doch ausreden. Interessiert mich.

Griechische Großmutter:
Wärst wohl auch gerne ein Mozart geworden.

Das Individuum zieht sich beleidigt in die weiße Ecke zur griechischen Großmutter zurück und bekommt ein Stück Butterbrot.

Kommentatorin:
So, nach der Begabungsvorstellung haben Musiker_innen eine besondere musikalische Begabung, die sie von musikalisch Unbegabten unterscheidet. Diese besonderen Fertigkeiten können also nach der Begabungsvorstellung nur von Musiker_innen entwickelt werden, nicht von jedem anderen auch.

Günstling:
Hört, hört!

Kommentatorin:
Wartet ab. In einer Studie von Koelsch et al. 1999 wurden zwei Versuchsgruppen, musikalischer Expert_innen (in diesem Fall Geigen), und Noviz_innen (sogenannte Nichtmusiker_innen), zwei unterschiedliche Akkorde vorgespielt. So. Ich überspringe jetzt die Details, Messgeräte und dergleichen. Im ersten Experimentalblock wurden den Versuchspersonen die Akkorde unter der Instruktion dargeboten, die Akkorde zu ignorieren. Die Versuchspersonen lasen währenddessen ein Buch. Im zweiten Block wurden die Probanden über unreine Akkorde informiert und instruiert, diese Akkorde herauszufiltern.

Individuum:
Aus der Ecke. Und? Und? Und?

Schiedsrichterin:
Im ersten Block unterschieden die Gehirne der Novizen nicht zwischen beiden Akkordtypen. Bei den Musiker_innen zeigten die Messgeräte deutliche Unterschiede bei den Akkorden.

Wolfgang Amadeus Mozart:
Na? Wer sagt’s denn?

Günstling:
Jawohl!

Schiedsrichterin:
Auch im zweiten Experimentalblock konnten dementsprechend die Expert_innen die unreinen Akkorde erheblich besser detektieren als die Novizen.

Kommentatorin:
So, dazu sage ich gleich: Die höhere auditive Sensibilität der Expert_innen kann theoretisch auf zwei unterschiedliche Faktoren zurückgeführt werden. Woraus folgende drei Erklärungen möglichwerden. Erstens: Expert_innen haben eine höhere auditive Sensibilität wegen des höheren Trainings. Zweitens: Expert_innen haben diese Sensibilität wegen ihrer höheren, musikalischen Begabung. Drittens: Beide Faktoren interagieren bei den Expert_innen.

Wolfgang Amadeus:
Zwei. Ganz klar.

Individuum:
Hm. Eher drei.

Günstling:
Zwei.

Griechische Großmutter:
Mit Neurologie hab ich nix am Hut.

Hund:
Ich will laufen.

Heiner Müller:
Eins.

Henry David Thoureau:
Zwei.

Schiedsrichterin:
Ergebnisse indizieren, dass die erste Erklärung zutrifft. Nicht die zweite und auch nicht die dritte. Aber ich bin ja die Schweiz.

Kommentatorin:
Um das gleich aufzugreifen: In einer Studie von Näätänen et al 1997 wurden zwei Versuchsgruppen, Est_innen und Finn_innen (analog zu den musikalischen Expert_innen und Noviz_innen) unterschiedliche Phoneme präsentiert.

Günstling:
Pho – was?

Chor:
Kleinste lautliche Einheit auf der Ebene des Sprachsystems.

Kommentatorin:
Als Standard-Reiz ein in beiden Sprachen prototypischer Laut und als abweichender Reiz ein Phonem, das im Estnischen üblich ist, aber im Finnischen nicht existiert. Wie im anderen Experiment, sind Est_innen daher verglichen mit Finn_innen sprachliche Experten für ihr Spezialphonem, das sie quasi extensiv trainieren.

Wolfgang Amadeus Mozart:
Ich weiß nicht.

Henry David Thoureau:
Wolfgang. Du bist doch schon tot und unsterblich. Was juckt dich das Ergebnis?

Kommentatorin:
In beiden Experimenten war der gleiche kognitive Diskriminationsmechanismus aktiv, und in beiden Experimenten hatten Proband_innen, die eine spezielle Art auditiver Diskrimination extensiv trainiert haben, eine besondere auditive Diskriminationsfertigkeit. So. Diese Fertigkeit ist deutlich unterschiedlich zwischen Est_innen und Finn_innen verteilt. Nach der Begabungsvorstellung würde angenommen werden, dass auch die ihr zugrunde liegende sprachliche Fähigkeit deutlich zwischen Est_innen und Finn_innen verteilt wäre, dass also die Est_innen die sprachlich begabtere Rasse seien.

Hund:
LAUFEN.

Kommentatorin:
Allerdings können besondere auditorische Diskriminationsfertigkeiten auch bei Blinden und Sehbehinderten beobachtet werden, die ihre akustische Wahrnehmung trainiert haben, um die geringere visuelle Informationsdichte auszugleichen.

Individuum:
Interessant.

Günstling haut impulsiv dem Individuum eine runter. Schiedsrichterin pfeift.

Kommentatorin:
Auch bei Personen, die erst als Erwachsene, zum Beispiel nach einer Operation, einem Infarkt oder einem Unfall ihr Sehvermögen verloren haben!

Günstling schlägt weiter auf das Individuum ein. Die griechische Großmutter klatscht. Die Schiedsrichterin pfeift immer noch. Alle anderen schauen zu. Der Hund bellt nervös.

Günstling:
Du willst uns unterwandern! Sie da ist keine Kommentatorin! Und du – du bist keine Schiedsrichterin! Ihr alle seid doch Agenten! Wer hat euch das gesagt? Die Lügenpresse?!

Individuum:
Lass mich! Was ist bitte dein Problem?

Günstling:
Ich hab es durchschaut! Sie lügt! Sie will so tun, als gäbe es das nicht! Weil sie alle gleichmachen will! Alle! Aber, aber: WIR SIND DAS VOLK!

Die Schiedsrichterin pfeift jetzt sehr lange und deutet dem Günstling, sich in eine Ecke des Boxrings zu begeben. Der Hund winselt.

Kommentatorin:
Uuuund wie es aussieht, endet die Runde damit, dass sämtliche von mir in der Literatur gefundene wissenschaftliche Argumentation mit dem finalen Aspekt der Durchsetzung rassistischer und eugenischer Maßnahmen auf der Begabungsvorstellung basiert.

Chor:
Wir sind begabt, wenn es an Begabten mangelt. Wir sind begabt, wenn es Ingenieure braucht. Dann können auch Bauern studieren. Dann sind auch Frauen mathematisch begabt. Dann sind auch POCs intelligent. Wir sind unfähig, sobald der Raum eng wird. Wenn es ausreichend genetisch, natürlich Begabte gibt, wenn es ausreichend weiße Männer aus gutem Hause gibt, dann werden wir unfähig.

Henry David Thoureau:
Und was hat das alles mit Literatur zu tun?

Eine Glocke läutet.

Schiedsrichterin pfeift dem Nummernboy ins Ohr. Nummernboy schrickt auf und hält den nächsten Pappkarton hoch. GENIE IN DER LITERATUR. Er setzt sich zur griechischen Großmutter. Sie schmiert ihm ein Butterbrot.

Kommentatorin:
Um die nächste Runde einzustimmen, würde ich gerne etwas zur Literatur sagen. So. Um der Bedeutung des Genie-Gedankens gerecht zu werden – darum bin ich so wichtig –, ist vonnöten, die geschichtlichen Situationen und Kampfstellungen einzubeziehen. Wir blicken zurück auf all die Literatur-Battles statt ein Charakteristikum des Genies „an sich“ zu entlarven. Tatsächlich hatte der Genie-Gedanke in der Literatur viele Parolen, die ihn befeuerten. Die unterschiedlichsten. Die Schlagabtausche verliefen anhand anderer Linien, als das Bild im Kopf wohl glaubt. Genie wider Kollektiv, das war nicht von Anfang an so gewesen. Schon im 18. Jhdt war das Genie Instrument eines umfassenden Emanzipationsstrebens. Damals war der Begriff stark in der Kunst verankert. So, die Theorie war nämlich an einem ganz anderen Punkt, als sie heute ist. Damit sich das Genie überhaupt so entwickeln konnte, wie es kam, musste sich da erstmal eine Teilung von „artes“ und „scientiae“ auftun. Ja, dort fing es an.

Günstling:
Sollen wir uns jetzt wieder anhören, dass es „Genie“ eigentlich nicht gibt?

Individuum:
Wie sollen wir dann einen Kampf zwischen Genie und Kollektiv hinbekommen?

Kommentatorin:
Je genauer hingesehen wird, desto weniger lässt sich etwas überstülpen. Wir könnten in der Antike anfangen. Die griechische Großmutter horcht auf. Oder bei der Rennaisance. Die griechische Großmutter isst weiter. Oder danach, als sich die Metaphysik zur Empirie hin wandte. Naturwissenschaften…

Heiner Müller:
Newton!

Kommentatorin:
…und dann eben die Aufhebung der Einheit artes – scientiae. Wie sich das Genie seinen Weg bahnte, durch die Geschichte. Von der Kunst-Liga in den Intellekt und die Wissenschafts-Riege. Als es aufstieg (oder zurückkam?) zur Gelehrten-Klasse. In der Philosophie-Liga umkämpft war und schließlich in die Politik einzog. Aber darauf kommen wir noch.

Individuum:
Also gibt es jetzt ein Genie?

Chor:
Wir sind bereit. Ihr werdet sehen, zur Not schlagen wir es schon vor Beginn nieder!

Kommentatorin:
Wie oft zuvor, wird die Gegenposition bezogen. Der Chor setzt zu einem Schlag gegen die Subjektivität an, doch der Genie-Gedanke duckt sich in die Aussage von Gottsched, der das Genie in der Vernunft gegen alles Individuelle verortete. Als nächstes gehen sie also gegen die Vernunft, aber jeder der Angriffe, egal von welcher Seite, geht ins Leere, weil sich das Genie schon in der Deckung von Klopstock befindet, es sei die gefühlshafte Begabung, das Herz zu rühren, die Deckung auf der anderen Seite hinter Lessing bleibt aber die ganze Zeit bereit, der erklärt, das Genie sei die logische und moralische Absicht. Und weiter geht es mit Nachahmung (Vernunft), nun irrational (Sturm und Drang) allerdings tut sich auch hier kein bloßer Zweikampf auf, denn vom Publikum unerwartet kommt der Mittelschlag, das Genie sei nicht bloß irrationales Potential, sondern eine individuelle Eigenheit. Bevor es müde wird, geht es also in den Gegenangriff mit dem Moment der Originalität. Dieser wird sofort gekontert mit einer Auseinandersetzung zum Fortschrittsdenken in der Industrialisierung, jeder Angriff wird abgewehrt, als wäre er schon erprobt. Selbst die Techniken um Authentizität und Unmittelbarkeit finden keine literarische Überhand. Hoffmann, Büchner, Stifter, Zola, Przybyszewski und Hesse liefern sich hier unvermutete Schlagabtausche. Und gerade als sich die Gegenseite fragt, wogegen sie da eigentlich kämpft und warum sie alles in die Luft schlägt, haut der Haken gegen die männliche Prägung mit voller Kraft durch.

Individuum:
Puh. Das war intensiv.

Chor:
Unerwartet.

Schiedsrichterin:
Es ist noch nicht vorbei. Noch liegt keine_r am Boden.

Kommentatorin:
Wir wissen, das ist nicht alles, was die Kontrahent_innen zu bieten haben. Wie wird diese Runde weiter verlaufen? Es wird noch spannender, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Modeerscheinungen sowohl Gedanken, Kunst als auch Meinungen beeinflussten. Positionen waren nicht klar anhand einer Linie gezogen. Es gab Mischformen. Meinungen von Einzelpersonen haben sich auch gedreht im Laufe ihres Lebens. 1760 wurde im „Handlexicon oder kurzgefaßten Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste“ das Stichwort „Genie“ noch nicht einmal aufgenommen. Auch Shakespeares Ansehen als Genie wurde nicht über Nacht geboren. Es wurde diskutiert und infrage gestellt, bis es sich schließlich kanonisiert hatte. Es gab Gegenbewegungen und Gleichzeitigkeiten. So lässt sich in Schriften aus 1769 finden, dass das (deutsche) Verlangen nach genuinem Dasein und genialem Schaffen, auch einen deutlichen, reaktionären Anteil hat. Das Genie als Rückstoß: Ausdruck einer bis zum dialektischen Umschlag verschärften Kulturkrise.

Günstling:
Die Überfremdung hat die deutsche, höfische Kultur bedroht! Gerade Französisch war die volksfremde Sprache der Höfe. Die alles geistige Leben okkupierende, dem Rationalismus gleichzusetzende Sprache!

Kommentatorin:
Gleichzeitig(!) war der Genie-Ideologie ein umfassendes Emanzipationsstreben inne, ja. Gerade die Sturm-und-Drang-Zeit, gerade Goethes Prometheus zeigen, welche Sprengkraft sich entfaltete, daraus, dass selbstbewusstes „Ich“-Sagen gegenüber religiösen Regeln, gegenüber geschichtlich geformten Autoritäten und ständischen Grenzen möglich wurde. Sogar elementare Sprachstrukturen konnten verändert werden, der Verzicht auf Reim und auf das feste metrische und strophische Schema entsprach eben dieser Grundtendenz, die „Regeln“ und alle vorgegebenen Bindungen aufzusprengen. Die Prosa wurde im Sinne des poetischen Pathos moduliert und emanzipierte sich gegenüber der Poesie als eine der Dichtung angemessene Sprachhaltung: Genie war damals der Form inhärent.

Wolfgang Amadeus Mozart:
Quoderat demonstrandum.

Chor:
Diese Umwälzung konnte auch deshalb so viel Kraft entwickeln, weil sich in ihr zwei Tendenzen trafen und miteinander verbanden: die Auflehnung des Bürgertums gegen die höfische Welt und die Reaktion der Wortführer dieses Bürgertums, der Gelehrten- und Literatengruppe, auf ihre spezifisch beruflichen Entfremdungserfahrungen. Aus beiden speiste sich die Hinwendung zum genuin und genialisch Humanen. Bald darauf dessen romantisiertes Kollektiv, das „Volk“.

Kommentatorin:
Im Nachhinein, wenn sich Geschichte reflexionsphilosophisch verdaut hat, lassen sich mehrere Sachen ablesen. Wie zum Beispiel, dass das Autonomie-Konzept als Lossagung von überkommenen Autoritäten auch darin fußte, sich auf eine neue, plausiblere Autorität zu berufen. Dem neuen Selbstbewusstsein entsprechend wurde sie dem auf seine eigene Produktivkraft vertrauenden Genie zugesprochen. Das gelang umso besser, je energischer es behauptet wurde. Darum haftet dem Genie noch lange ein provokatorisches Pathos an. Das lässt erkennen, wie gewichtig dieser Umwertungsvorgang war und warum aus den freiwerdenden Energien der Negation eine andere Art autoritärer Ideologie und ein neuer Dogmatismus wurden.

Der Hund kackt mitten auf die Bühne.

Schiedsrichterin:
Wer räumt das jetzt weg? Niemand antwortet. Wie sind hier die Besitzverhältnisse? Wem gehört eigentlich der Hund? Niemand antwortet. Sonst muss das Tier weg. Dies ist ein neutraler Ring mit geordneten Besitzverhältnissen. Die griechische Großmutter lacht.

Alle sehen betreten weg. Der Hund versteckt sich hinter dem Individuum. Schiedsrichterin sieht das Individuum prüfend an.

Individuum:
Ja gut. Nehm ihn ja.

Schiedsrichterin reicht dem Individuum einen Plastikbeutel. Individuum klaubt den Kackhaufen auf und wirft den Beutel aus dem Ring.

Griechische Großmutter kopfschüttelnd:
So deutsch.

Kommentatorin:
Ein interessanter Aspekt. Denn natürlich spielten sich die Entwicklungen nicht bloß in Deutschland (und was war das damals schon?) ab. Trotzdem war es Fichte, der Ende des 18., Beginn des 19. Jahrhunderts das Genie ins Gelehrtentum übersetzte, indem er mit der Idee, mit dem Idealismus argumentierte, die innere Dringlichkeit betonte, die individuelle Bestimmung, die menschliche Fähigkeit.
Und es war Heine, der ab 1820 systematisch die von der Geniezeit und vom deutschen Idealismus bereitgestellten Kriterien der Genialität zur Charakterisierung Napoleons einsetzte, ihn ausdrücklich „genial“ nannte, und somit dem Genie einen Platz in der Politik einräumte. So. Deutsch kommt nicht nur so oft vor, weil es um deutschsprachige Literatur gehen soll.

Chor:
Wir sind Gegenreflexe und unterschiedliche Parallelen. Wir sind Nietzsches Reaktion auf die steril gewordene Bildungswelt des 19. Jahrhunderts, Authentizität und sinnstiftende Selbstermächtigung. Wir sind gegen uns selbst. Gleichzeitig sind wir Marx. Wir sehen das Entfremdungsproblem in der sozialen und ökonomischen Lage einer verelendenden Klasse. Wir sind die Entwicklung zum Naturalismus und zum roman expérimental, haben keine Authentizität, sind Produkt von Realfaktoren bei Taine: „Rasse“, „Milieu“ und „Zeit“. Rücken hier am weitesten ab von allem Idealen, Metaphysischen, Individuellen, von der künstlerischen Schöpfung, wir beobachten nur und sind darum reflexhaft das Bedürfnis nach Individualität und genialer Größe. Wir warnen aus Conrads Schrift vor den Auswirkungen der Genie- und Übermensch-Ideologie auf die Politik und zeugen in der Napoleon-Legende von der politischen Wucht des Genie-Gedankens in einer immer mehr von Masse bestimmten Zeit.

Günstling nickt:
Wir glauben an die Legende. Ja. Das ist echt. Scheiß auf die Wirklichkeit.

Kommentatorin:
Die Wahrnehmung eines Genies fußt nicht so sehr in seiner lebendigen Bedeutung wie in seiner auferlegten Geltung. Genie ist ein Produkt der Verehrenden.

Chor:
Ebenso wie Widerstand, sind wir die Eingestimmten, die nach dem Genie rufen. Wir lehnen es ab und echoen gleichzeitig: Nicht an Führer-Genies habe es Deutschland im Ersten Weltkrieg gefehlt, sondern an der Führbarkeit des Volkes.

Kommentatorin:
Dass dieses Bewusstsein so formiert sein konnte, erklärt sich nicht bloß aus einer mächtigen Tradition. Eine bisher zum Autoritätsglauben erzogene Gesellschaft fand sich plötzlich autoritätloser; in einer individualistischen Reaktion auf die industrielle Massengesellschaft. Die Vorarbeit von der Literatur, vom Genie-Gedanken her, fand sich in den damals aktuellen Feuilletons und Bestsellern weiter übersetzt und ästhetisiert. Selbst von maßgebenden Jurist_innen konnte in der größten juristischen Fachzeitschrift daher selbstverständlich im Sinne dieser Ideologie geschrieben werden. Nur dass die „Regeln“, die von der Kunst her kamen, nun die „Gesetze“ waren, über die sich das Genie legitimer- (nicht legaler-!) weise hinwegsetzen konnte.

Individuum:
He! Versteht ihr nicht? Damit ist die Genialität doch ausgehöhlt! Keine Qualität genialer Einzelpersonen, sondern die Unterwerfung und Anhimmelung der Masse machen es aus!

Kommentatorin:
Damals ging der Steppenwolf noch überhört vorüber.

Günstling:
Aber was da auch noch wichtig war…

Kommentatorin:
Zur Eugenik und zum ekligen Biologismus habe ich schon alles gesagt, was ich sagen wollte.

Chor:
Natur ist ein ebenso hohler Begriff wie „Genie“, und wir können Rousseau, wir können die Natur des Menschen beliebig auslegen, je nachdem, was wir davon ablesen wollen. Wir können zehntausend Meinungen aus der Schöpfung und der schöpferischen Kraft des Menschen basteln. Wir können ausblenden, dass Genialität oft mit Krankheit in Verbindung gebracht wird, wenn wir nur wollen.

Kommentatorin:
Das erinnert mich an all die Boxkämpfe: Schöpfung, Nachahmung, Epigonie, Parodie. Ich fand über die Zeiten, dass sie alle gleich verliefen. So. Aber das Publikum war wohl immer ein anderes.

Griechische Großmutter:
Und wer sieht schon weg, bei einem guten Battle?

Der Chor fühlt sich verloren, und das Genie ist zerpflückt und verlaufen. Die Schiedsrichterin weiß nicht, was sie pfeifen soll, da keine_r mehr zugeschlagen hat. Darum pfeift sie den Nummernboy an.

Der Nummernboy hat den Anfang verpasst, springt auf und hält einen Pappkarton hoch: GENIE WIDER KOLLEKTIV. Eilig läutet eine Glocke.

Chor:
Wir müssen über die Möglichkeiten hinaus, weiter, wir entwerfen unwahrscheinliche, ins Gelingen verliebte Kollektive!

Heiner Müller:
Kollektive, zur Gefahr auch gleich Kitschalarm! Das kann doch wirklich keiner mehr hören, nicht einmal ich. Das klingt doch nur nach DDR und sowjetischer Agrarwirtschaft. Kollektivismus des bolschewistischen Russland – habt ihr denn kein besseres Wort auf Lager?!

Individuum:
Aber du hast doch selbst gesagt, dass man durch die Vergangenheit . . ., also mit der Vergangenheit. Nein? Ich dachte, es gibt keine weiße Leinwand und kein Von-Vorne, das wäre ja… Wir wollen mit dem Begriff arbeiten und –

Chor:
Wieso stellen wir ein Kollektiv? Wir wollen so arbeiten und verteidigen es, auch wenn wir mehr und mehr über die Gefahren lernen, die sich daraus ergeben, die sich aus uns ergeben. Kollektiv ist nicht gleich Solidarität.

Heiner Müller:
Mhm, süß. Ruft mich, wenn euch tatsächlich jemand zuhört, jemand, der nicht eh schon eurer Meinung ist.

Kommentatorin:
So. Was unterscheidet ein Kollektiv von einer Familie? Können zwei Menschen ein Kollektiv sein? Was unterscheidet ein Kollektiv von einer zufälligen Ansammlung von Menschen? Von einem Netzwerk? Von einer Gruppe?

Individuum:
Wie gehe ich im Kollektiv nicht unter? Ich musste mir Selbstbewusstsein doch so mühsam erkämpfen. „Ich“ sagen können. Wenn ICH meine Bedürfnisse denen eines Kollektivs unterordne… Wer bestimmt, was das für Bedürfnisse sind? Und woraus sollen sie sich zusammensetzen, wenn meine ja offensichtlich kein Teil davon sind?

Chor:
Im Kollektiv sind alle mündig. Es gibt ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsames Vorgehen. Die Fäden in einem Kollektiv sind verbindlich. Ein Kollektiv bündelt bewusst die Kräfte der Einzelnen, um daraus mehr als die Summe dieser Kräfte zu gewinnen. Ein gelingendes Kollektiv hat Überschuss. Das Kollektive verspricht Dauer und Kontinuität, andauernde Herausforderungen. Es fordert Einlassung, und es droht mit Zermürbung. Es gibt eine Selbstwahrnehmung als Kollektiv, manchmal ein Manifest. Das Kollektiv unterbricht die Beschwörung des immerzu abrufbaren Individuums.

Individuum sieht sich verwirrt um. Der Günstling windet sich vor Lachen auf dem Boden.

Chor:
Durch die solidarische Zusammenarbeit seiner Partikel verhilft es zu Lücken im Fangnetz der beständigen Verfügbarkeit. Wir wollen eine unwahrscheinliche Zusammensetzung des Kollektivs. Es bricht mit der Gewohnheit. Möglichst verschiedene Kräfte vereinend, ist es eine Brücke, die durch den zärtlichen Druck seiner Bausteine gehalten wird. Die Brücke ist gespannt zwischen Menschen oder sozialen Gruppen, die bei Abendveranstaltungen nicht sowieso aufeinandertreffen, die nicht in der gleichen Schlange im Bioladen stehen, überhaupt nicht in den gleichen Geschäften einkaufen, unterschiedliche Bücher lesen (und schreiben), in verschiedenen Berufen arbeiten oder arbeiten müssen, bei denen sie unterschiedlichen Graden gesellschaftlichen und staatlichen Druckes ausgesetzt sind. Oder manche von ihnen lesen überhaupt nicht, kaufen nicht ein und haben keinen Job. (Kollektives kurzes Luftholen.) Das ist alles offen, es steht nur fest, dass ein gelingendes, solidarisches Kollektiv nicht aus ein paar jungen, weißen, männlichen Philosophiestudenten besteht. Das ist nicht im Geringsten revolutionär!

Kommentatorin:
Das Old Boys Network ist kein Kollektiv!

Die Genies stellen sich zusammen und bilden einen eigenen Chor, den Chor der Genies. Der Günstling stellt sich zu den Genies und kniet nieder. Er beginnt schließlich die Stiefel Henry David Thoureaus zu lecken.

Henry David Thoureau:
Euer sogenanntes ‚Bewusstsein des Kollektivs’ ist doch bloß eine ideologische Fiktion zur Knotung des Einzelnen.

Griechische Großmutter:
Steht auf und streckt sich. Dann bleib halt allein im Wald, da bist du sicher – , aber zeig doch bei Gelegenheit, wie das die Welt verändert. Ok? Nichtmal ein Buch darüber zu schreiben hat etwas gebracht.

Individuum:
Nieder mit dem Glück der erfolglosen Minderheit, nieder mit der moralischen Überlegenheit der Marginalisierten.

Hund:
Bellt. Das ist mein Herrchen. Hier gehöre ich hin. Das ist mein Herrchen. Hier gehöre ich hin.

Chor der Genies:
Und das Problem des zum Ganzen aufgeblähten Teilaspekts?!

Henry David Thoreau:
Ein grundlegender Mangel von Kollektiven, Gruppen, Zusammenschlüssen besteht doch darin, dass sie sich in den meisten Fällen ihrer Partikularität und Einseitigkeit nicht bewusst sind. In der Regel wird ein Teilbereich für das Wesen der Sache genommen; die Kollektive meinen, ihr jeweiliges Tun und Denken sei bereits die Totalität des revolutionären Projektes oder zumindest dessen allein Erfolg versprechende Vorbereitung. Was man selbst macht, wird als das einzig Wahre gesehen.

Stimme aus dem Off:
Wenn doch nur alle so fleißig den Literaturbetrieb kritisieren würden wie wir!

Für einen Moment blicken alle vereint an die Decke.

Chor der Genies:
Da habt ihr eure Gruppen: Der eigene Verein wird zum Selbstzweck. Aufgrund der fehlenden, wirklichen Praxis, welche im Ausbleiben einer revolutionären Situation ja tatsächlich schwierig zu entwickeln ist, wird die Gruppe dann oft fetischistisch aufgeladen. (Genies lachen, Günstling stimmt mit kurzer Verzögerung in das Lachen ein.)

Henry David Thoureau:
Wichtiger als die Frage, ob eine Handlung zur Sache beiträgt, wird der Erfolg der Gruppe in der Konkurrenz zu anderen Gruppen.

Kommentatorin:
Kollektive unter sich.

Heiner Müller:
Das Ego fühlt sich geschmeichelt, indem es das Gefühl bekommt an etwas von Relevanz teilzuhaben, das linke Über-Ich, das beständig fragt: »Und was tust du für die Revolution?!«. Dem Erhalt oder auch der bloßen Verteidigung einer Gruppe wird dann, wenn schon nicht alles, so doch vieles untergeordnet.

Henry David Thoureau:
Und das heißt im Endeffekt auch: Das Individuum ist nichts, die Gruppe ist alles. Das führt dazu, dass selbst diejenigen, die sich keiner Gruppe anschließen mögen, sich nur auf eine solche bezogen sehen und sei es als Nichts. Ausnahmen davon sind höchstens bekannte Autor_innen, Blogger_innen oder Musiker_innen.

Kommentatorin:
Die Verwendung der nicht-männlichen Form, so, ist hier allerdings mehr Hohn als Sichtbarmachung.

Chor der Genies lacht. Günstling hat den Einsatz verpasst.

Individuum:
Vielleicht, das Wichtige an Kollektiven, erstmal grundlegend, der hiesige Literaturbetrieb, im Gegensatz zu großen Teilen der Literaturtheorie, die Vorstellungen von Autor_innenschaft immer noch und immer wieder aufs Neue auf Geniekonzeptionen der Klassik und Romantik. Noch nicht auf das Kollektive eingestellt.

Chor der anderen:
Das Kollektive ist suboptimal in einer Gesellschaft, die nicht auf das Kollektive ausgelegt ist.

Chor der Genies:
Papperlapapp.

Kommentatorin:
Genau! Die wenigen Beispiele an zeitgenössischem, kollektivem Schreiben, werden zwar teilweise gehypt, aber nur in einem Rahmen, der verhindert, dass sie gefährlich werden können. Solang sie nur „einzig“-artig sind. Es geht um Verunsichtbarungsdynamiken. Genieästhetik, Originalität und überhaupt alles, was das literarische Arbeiten als einen außergewöhnlichen schöpferischen Akt versteht, dies sind vor allem deshalb so witterungsfeste Kategorien, weil sie auf dankbar unterkomplexe Weise zu erklären scheinen, wie Texte in die Welt kommen und wann das seine Berechtigung hat.

Henry David Thoureau:
Der Literaturbetrieb ist dazu da, das unsortierte Chaos zu sortieren und aus dem komplexen Überangebot eine Vorauswahl zu treffen.

Griechische Großmutter:
Aber wer? Wer trifft die Auswahl? Die alten Männer sitzen oft über Jahre und wählen in acht von zehn Fällen die Literatur junger Männer aus, die sie an das erinnert, was sie mal waren. Pause. Oder was sie gerne hätten. Lacht über sich selbst.

Ein berühmter Lektor will in den Ring:
Aber hört mal, nirgendwo sonst als in Deutschland gibt es so einen breit gefächerten Literaturbetrieb, so viele Wettbewerbe auch für Frauen und Migranten und …

Individuum:
Wo kommt der denn jetzt?

Schiedsrichterin pfeift und stellt sich vor den berühmten Lektor.

Berühmter Lektor:
Aber hör mal, kennst du mich nicht?

Schiedsrichterin:
Unterbricht ihn. Ich bin die Schweiz. Ich brauche niemanden zu kennen. Und seien Sie bitte so höflich mich zu siezen. Verweist ihn auf seinen Platz im Publikum.

Chor der anderen:
Und da sollen wir in Ruhe planschen gehen, bis der Literaturbetrieb von selbst mit seiner Metamorphose fertig ist? Nein danke! Dafür erleben wir jeden Tag aufs neue zuviele unangebrachte Sprüche, Ablehnungen und Vorurteile. Wir wollen es anders.

Individuum:
Und komm nicht damit, alles arbeiten sei eh schon kollektiv. Die Drehbücher in Hollywood, die Bibel oder die akademischen Forschungen. Letztere vielleicht noch am ehesten, manchmal. Wir meinen aber etwas anderes.

Chor der anderen stimmt ein:
Wir wollen die Veränderungen mit initiieren, anstatt Zuschauer_innen zu sein. Ob es dann ‚kollektiv‘, ‚kollaborativ‘ und ‚kooperativ’genannt werden wird, ob es den Bach runtergeht, ob es etwas ganz anderes sein wird , die Praxis wird es zeigen. Es geht uns nicht darum, ein Ziel festzulegen, sondern die Aufmerksamkeit und Spielfreude für andere Wege offenzuhalten. Wir möchten uns endlich mit schöneren Problemen beschäftigen können als mit diesen. Natürlich langweilt es uns auch, dass wir uns wiederholen müssen. Das Vertrauen ins Kollektiv können wir nur durch die Praxis, die Tat, den Versuch gewinnen.

Kommentatorin:
Nach 500 Jahren Individualisierungsprozessen ist es, euphemistisch gesagt, schwierig, diesen absoluten Wert zugunsten eines Kollektivs aufzuheben. Er soll auch gar nicht gänzlich aufgehoben werden, höchstens angehoben, damit man etwas anderes drumherum bauen kann.

Hund:
Jetzt Hunger. HUNGER.

Kommentatorin:
Schreibt man zu dritt, stellt man fest, dass sich dabei nicht drei Weisen des Schreibens zusammenfinden, sondern dass eine vierte entsteht. Da das Unterfangen als Experiment angelegt ist, wird man selbst experimentierfreudiger, steuert Material bei, das schon von sich aus weniger ‚eigen‘ ist. Das Schreiben mit vielen Menschen ist die Keimzelle einer doppelten Idee des Kollektiven: Das ‚Eigene‘ auszudrücken, verändert man dafür, auf die Suche nach einem ‚Gemeinsamen‘ zu gehen, das gerade nicht in der Addition der Positionen, sondern in ihrem Dialog und ihrem Konflikt liegen wird. Die Texte sind prozessualer, weniger abgeschlossen, und wenn sie gelingen: kommunikativer. Dabei stellen sie nicht zuletzt auch in Frage, was das ‚Eigene‘ überhaupt ist. Um die oft angebrachte Vermutung – dass die Kooperation von mehreren Dichter_innen zwangsläufig dazu führen muss, dass Kompromisse eingegangen werden, die die Qualität des Produktes beeinträchtigen – zu entkräften, braucht man dann schlicht der Kritik das Wissen vorzuenthalten, dass es sich um einen kollektiv verfassten Text handelt.

Henry David Thoureau:
Das denkst auch nur du.

Wolfgang Amadeus Mozart kritzelt etwas auf einen der weggeworfenen Kartons. Heiner Müller sieht ihm dabei zu.

Heiner Müller:
Was soll denn das werden?

Wolfgang Amadeus Mozart:
Eine Oper natürlich. Posthum sozusagen.

Heiner Müller:
Aha.

Kommentatorin:
Viele gegenwärtige Formen des Aktivismus tappen in die Falle des Individualismus. Die politische Organisation hingegen beruht auf Kooperation: Sie versucht andere zu integrieren und gemeinsam Macht aufzubauen und auszuüben. Organisation bedeutet, eine soziale Gruppe in eine politische Macht zu verwandeln. Das organisierte Kollektiv verspricht Dauer und Kontinuität, es fordert Einlassung, es droht mit Zermürbung. Aber weißt du was? Nieder mit dem Glück der erfolglosen Minderheit, nieder mit der moralischen Überlegenheit der Marginalisierten!

Hund:
HUNGER!

Individuum:
Noch ein paar Worte zur Kreativität.

Hund:
HUNGER!!!

Individuum:
Ist ja gut. Hier. Füttert den Hund.

Griechische Großmutter:
Wisst ihr eigentlich, woraus das Wort ‚Kreativität’ oder ‚die kreative Schöpfung’ im Griechischen besteht, woher es kommt? Ich mag das sehr gern, weil man daran sehen kann, wofür die Menschen einen Begriff gebraucht haben. Δημιουργία, zusammengesetzt aus δῆμος für Volk und έργο für Werk. Es ist also ein Werk, das für die Gesellschaft geschaffen wurde, für die Anderen, nicht für den Einzelnen. Kreativität vom Einzelnen für den Einzelnen gibt es nicht.

Individuum:
Aber Großmutter, warum gilt denn dann die kreative Arbeit dem Kapital und seinen Investoren als so vielversprechend?

Griechische Großmutter:
Weil der darin enthaltene Begriff der Schöpfung ihnen mit dem Versprechen einer Produktion von Wert aus Nichts, einer δημιουργία φτιάχνω κάτι από το μηδέν, einer creatio ex nihilo zu wedeln scheint. Sie denken: keine Fabriken, keine dreckigen Kohleminen, keine kolonialen Raubzüge mehr – sondern einfach nur ein bisschen autopoietisches Hirnschmalz, wie wunderbar, und erst die Rendite! Himmlisch! Und obwohl inzwischen selbst die Kapitalisten wissen, dass es so etwas nicht gibt, wissen sie doch, dass sie so tun können, als ob. Denn wenn man tatsächlich auch kreativer Arbeit so etwas wie Rohstoffe, Bearbeitungstechniken, Wissensformen und deren Beherrschung zugestünde, dann wäre ja immerhin schon eine Kleinigkeit gegen die Überforderung derer getan, die sie leisten – und das will doch niemand.. Θεός φυλάξοι! So, und jetzt muss ich wählen gehen. Wahlsonntag. Kommt ihr mit?

Individuum:
Nein. Ja. Nein. Wir müssen denken.

(Hund springt an der griechischen Großmutter hoch)

Griechische Großmutter:
Platz! Sei nicht so übereifrig. Du solltest dich als Arbeitnehmerin nicht so mit deinem Arbeitsplatz identifizieren. Das verhindert deine Politisierung. Sonst kommen wir alle nie wieder aus diesem Modus der naturgemäß panischen Subjektivität im Konkurrenzverhältnis raus. Und das will doch keiner, oder?!

Hund gehorcht der Großmutter sofort und setzt sich. Individuum betrachtet verblüfft dieses Schauspiel.

Chor der anderen:
Das Kollektiv muss widersprüchlich verstanden werden.
Das Kollektiv muss dem Erfolg des Kollektiven zweifelnd begegnen.
Das Revolutionäre des Kollektivs produziert eine Depression in seinem Erfolg.

Henry David Thoureau:
Das habt ihr geklaut.

Individuum:
Ach ja?

Kommentatorin:
Creative Commons.

Hund:
Spazieren?

Individuum:
Ja. Komm, Hund. Wir gehen.
Sie gehen eine Weile im Kreis.

Individuum:
Weisst du, Hund, in der Vielzahl lassen sich Dinge sagen, die sich in der Einzahl nicht sagen lassen.

 

MUSEN:

Immanuel Kant
Richard Feynman
Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Band 1&2
Stefan Kölsch, Der soziale Umgang mit Fähigkeit
Wissenschaft an den Grenzen des Verstandes, Beiträge aus den Natur- und Lebenswissenschaften, Eine Publikation des MinD Hochschul Netzwerkes, Hrsg. Martin Dresler
Markus Wessler, Entscheidungstheorie
Hartling, F. (2009). Der digitale Autor : Autorschaft im Zeitalter des Internets. Bielefeld: Transcript
Menke, C. (2012). Kreation und Depression: Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus(Sonderausg.). Berlin: Kulturverl. Kadmos.
Porombka, S. (2006). Kollektive Kreativität. Tübingen: Francke.
Werkstattgesprächsankündigung Linguistik und Poetik kollektiven, kollaborativen und kooperativen Schreibens, 29.01.2016 – 29.01.2016 Dortmund


LITERATURANGABEN & INSPIRIERT VON:

Die Scherbentheorie – Reflexionen über den Club für sich
Die Permanenz des Ästhetischen; Melanie Sachs, Sabine Sander (Hrsg.)
Frauen Literatur Geschichte; Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann (Hrsg.)
Ursula K. LeGuin
Wikipedia-Artikel zu: Boxkampf
Taylor, Astra (Juni,2016). Aktivist. Artikel in LeMondeDiplomatique
Literatura Colaborativa: http://www.literativa.com/
madridescribe: http://www.madridescribe.es/
http://www.kollektiveautorschaft.uni-koeln.de/frueheirritationen.htm
http://www.literaturwerkstatt.org/de/poesiefestival-berlin/archiv-poesiefestival-berlin/archiv-2015/colloquium-positionen/tristan-marquardt-zukunfte-der-dichtung-keynote1?next=20160307
Digitale „Literatura Participativa“ und das Verständnis von Bedeutungskonstruktion
Neanette Hedwig Müller, Vertrauen und Kreativität, Zur Bedeutung von Vertrauen für diversive AkteurInnen in Innovationsnetzwerken

Und Gesprächen mit: Sasha Marianna Salzmann, Suy Lan Hopmann, Elli Papadopoulou und vielen mehr

Essay#2PS