Konkurrenz und Kanon

 

Im Frühling 2013 hielt ich im Rahmen eines Seminars am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig einen Vortrag zu Monique Wittigs Essay The Point of View: Universal or Particular aus dem Jahr 1980, den ich hier frei mit: Das Allgemeine oder das Besondere übersetze. Ich hatte mich für das Thema Das Politische in der Literatur gemeldet, um mit Monique Wittigs Hilfe auf kreative Weise einen Beitrag zu gestalten, von dem ich hoffte, er könne, wenn nicht einen Anstoß, so zumindest ein breiteres Verständnis für meinen Standpunkt bei meinen Kommiliton_innen sowie meinem Professor generieren. Wer von Monique Wittig noch nie gehört hat, kein Ding – weder meinen Kommiliton_innen noch meinem Professor war bis zum Zeitpunkt meines Vortrags Monique Wittigs Existenz bekannt gewesen. Wittig war eine französische Schriftstellerin und feministische Theoretikerin. 1935 geboren und 2003 verstorben, wird sie häufig in einem Satz mit Irigaray, Kristeva und Cixous erwähnt.

Wittigs Analyse in The Point of View bietet folgende Denkanstöße:

  • Es gibt kein weibliches Schreiben. Was sollte denn das Weibliche im weiblichen Schreiben sein? Ein Mythos, aufgebaut auf Unterschied, Spezifizität, dem weiblichen Körper/der weiblichen Natur? Weibliches Schreiben würde darauf hinauslaufen, dass Frauen nicht Teil der Literaturgeschichte sind.

  • Es gibt das weibliche Geschlecht, weil männlich nicht das Männliche ist sondern das Allgemeine. Deshalb kann man auch nicht die weibliche Form benutzen, um zu verallgemeinern. Denn das Männliche ist das abstrakte und das Weibliche das konkrete Geschlecht in der Sprache.

  • Minderheitenschriftstellerinnen treten per se schief ins literarische Geschehen. Die relevanten Problemstellungen in der Literatur, mit denen ihre Zeitgenossinnen beschäftigt sind, werden bei Minderheitenschriftstellerinnen von ihrer Perspektive überschattet und somit allzu oft übersehen. So birgt es zum Beispiel immer ein Risiko, eine Geschichte zu schreiben, die auch Homosexualität beinhaltet. Nämlich das Risiko, dass das, was eigentlich erzählt werden will, in den Hintergrund tritt und Homosexualität in der Rezeption eine Monopolfunktion einnimmt.

  • Eine Minderheitenschriftstellerin muss sich immer sowohl formal behaupten, sprich sich in einen Bezug zu dem, was gerade in der Literaturgeschichte debattiert wird setzen, als auch konzeptionell gegen das „Versteht sich von selbst“ des heteronormativen Denkens.

Als Lösungsansatz schlug Monique Wittig vor, das Besondere zum Allgemeinen zu machen.

Mit diesen Leitgedanken im Hinterkopf, führte ich mit meinen Kommiliton_innen und meinem Professor ein schlichtes Experiment durch. Ich hatte mir Anfangssätze von Erzählungen ausgedacht, andere aus der Literatur übernommen, in denen ich entweder das Geschlecht oder die Hautfarbe über den Namen verschleierte oder hervorhob.
Warum ausgerechnet dieser Job? Nur um dem Vater was zu beweisen. Bescheuert! Der Körper würde das nicht lange mitmachen, die 30 Kilo Säcke mit Sand, Mörtel, Zement. Kein Wunder, dass so viele Bauarbeiter in Frühpension gingen. Mit Mitte 30 konnte man sich auf den ersten Bandscheibenvorfall einstellen. Andi zog sich eine Flasche Bier aus der Kiste und setzte sich an den Rand der Baustelle. Alle anderen waren gegangen.
Wer ist Andi? Ein junger Arbeiter, der seinem Vater nacheifert oder eine junge Arbeiterin, die ihrem Vater etwas beweisen will? Ohne Ausnahme war Andi in den Köpfen aller ein junger Mann.

Wie die Zufälle doch ab und an für eine arbeiten, kam von der Universität Leipzig – 33 Jahre nach Wittigs Vorschlag, das Besondere zum Allgemeinen zu machen – einige Tage vor meinem Vortrag eine Verordnung, die besagte, dass zukünftig die weibliche Form als die Allgemeine anzusehen sei und in allen amtlichen Schriftstücken und Anschreiben derart verwendet werden solle. Die Kritiken blieben nicht lange aus. Viele Männer, aber noch mehr Frauen taten die Verordnung als unnötig ab. Das alte Argument, die Sprache dadurch zu „verschandeln“, kam wiederholt auf. Ich fragte mich warum. Konnte es wirklich sein, dass Männer einfach nicht bereit waren auf Privilegien zu verzichten, die ihnen bis dato wahrscheinlich nicht einmal als solche bewusst waren? Und waren Frauen einfach zu stolz, um sich öffentlich darauf hinweisen zu lassen, dass ihnen gewisse Privilegien bisher nicht zuteil geworden waren, unabhängig davon ob sie diese je vermisst hatten? Die Verwunderung ließ mich nicht los.

Ein anderes Beispiel, das ich ausgewählt hatte, ging über eine simple Verschleierung oder Hervorhebung hinaus.
„Wer seid Ihr?“ fragte K. und sah von einem zum andern. „Eure Gehilfen“, antworteten sie. „Es sind die Gehilfen“, bestätigte leise der Wirt. „Wie?“ fragte K., „Ihr seid meine alten Gehilfen, die ich nachkommen ließ, die ich erwarte?“ Sie bejahten es. „Das ist gut“, sagte K. nach einem Weilchen, „es ist gut, daß Ihr gekommen seid.“ „Übrigens“, sagte K. nach einem weiteren Weilchen, „Ihr habt Euch sehr verspätet, Ihr seid sehr nachlässig.“
Wahrscheinlich haben Sie das Zitat erkannt. Meine Kommilitoninnen und meine Professorin haben es auch erkannt.
Der interessante Aspekt an Kafkas Landvermesserin ist nicht nur die offen gelassene Frage nach dem Geschlecht von K., sondern auch die nach der Hautfarbe. Trotzdem wird K. nahezu ausschließlich männlich und weiß rezipiert. Und das obwohl es sich um die Figur einer Fremden, einer Landstreicherin handelt, heute wäre man geneigt zu sagen einer „Illegalen“.
Mit dem jüdischen Schriftsteller Kafka, der in einem mehrheitlich tschechischsprachigen Kontext sich dafür entschieden hatte in einer Sprache zu schreiben, von der wir heute wissen, dass sie etwas über ein Jahrzehnt später die Sprache der Mörder seinesgleichen werden würde, nehme ich hier zwei Aspekte vorweg, auf die ich später näher eingehen will: Wer spricht? Also die Frage nach der Autorinnenschaft. Und wie wird worüber gesprochen. Die Frage nach der literarischen Qualität.
Im Seminar spannte ich mit Kafka den Bogen zu einem Komplex, der mit Monique Wittigs Point of View parallel gedacht werden sollte: dem literarischen Kanon.

Das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig ist ein Teil der Universität Leipzig und innerhalb dieser, ebenso wie der Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, die Sprachkunst in Wien oder der Studiengang Literarisches Schreiben in Biel, ein Institut für Kunst in Form von Literatur. Verstehen wir Kunst als ein gesellschaftliches Teilsystem, das zusammen mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen wie Politik, Erziehung, Wirtschaft u.a.m. das System Gesellschaft bildet, dann nimmt das DLL notgedrungen einen Platz im Kunstsystem ein. Gehen wir weiter davon aus, dass sich alle Teilsysteme gegenseitig beeinflussen. Der Grad des Einflusses von einem System auf ein anderes hängt von der Machtposition ab, die einem System zum gegenwärtigen Zeitpunkt von der Gesellschaft zugestanden wird – in welcher Konstellation auch immer sich eine Gesellschaft ebenda befindet. Das Kunstsystem selbst ist wiederum keine homogene Einheit, sondern setzt sich aus Teilsystemen zusammen. Das Teilsystem Literatur soll hier genauer betrachtet werden. Geht man davon aus, dass jedes System ein Zwischenspiel von Beständen und Flüssen darstellt, wären das DLL, literarische Zeitschriften, Verlage u.a.m. Institutionen, also Bestände des Literatursystems. Während zum Beispiel eine Literaturkanonisierung oder eine Literaturzensurierung – es scheint mir nicht sinnvoll, das eine ohne das andere zu denken – Handlungen, also Flüsse darstellen.
Worauf ich konkret eingehen möchte, sind die Kanonisierungs- und Zensurierungshandlungen und deren Auswirkungen. Was ich damit betone, ist, dass ein Literaturkanon nichts Beständiges ist, keine Entität, sondern das Resultat einer Handlung, einer Entscheidung, die Entscheidung einer Zeit und damit eines für diese Zeit charakteristischen Ideengebildes. Es sind nicht die Entscheidungen einzelner Personen oder gar einer Einzelnen, aber subsummiert sehr wohl die Entscheidungen, also Handlungen vieler Einzelpersonen, die wiederum aufgrund ihrer Positionen innerhalb der literarischen Institutionen, der Bestände, ihren Entscheidungen mehr oder weniger an Nachdruck verleihen. So wird meine vom Buchhandel oder Amazon ausgewertete Einkaufsliste einen anderen Einfluss auf das Leseverhalten oder zumindest das Konsumverhalten anderer Leserinnen haben als die Vorschläge Reich-Ranickis. Und wieder anderen Einfluss haben die an Literaturinstituten ausgehändigten Leselisten, denn sie beeinflussen nicht nur das Leseverhalten einer Gruppe von Studierenden, sondern implizit auch das zukünftige Schreibverhalten dieser. Simone Winko schreibt in ihrem Essay Literatur-Kanon als Invisible- Hand-Phänomen, dass niemand den Kanon absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt habe, dennoch hätten viele „intentionally“ an ihm mitgewirkt. Sie erklärt, man könne sich den Kanon als Zwei-Ebenen-Phänomen vorstellen, das Kontingent, aber nicht willkürlich entstanden sei. Obwohl ich der Invisible-Hand-Theory sehr skeptisch gegenüberstehe, greife ich sie hier auf, nicht zuletzt weil ich meine, dass sie unseren Zeitgeist – die Epoche des Konkurrenzkapitalismus – trifft, mit dem allzu gerne offensichtliche Herrschaftsstrukturen unter einen Zauberumhang gesteckt und unsichtbar gemacht werden. Nicht nur um den Profitierenden der bestehenden Verhältnisse in ihre sehr sichtbare Hand zu spielen, sondern wahrscheinlich auch aus der zunehmenden Überforderung Strukturen zu durchblicken und adäquate Gegenstrategien zu entwickeln. Nicht umsonst wurde das Invisible-Hand-Phänomen von dem Ökonomen Adam Smith aufgegriffen, der das Phänomen dafür benutzte zu argumentieren, dass das eigennützige Streben der wirtschaftlich schaffenden Menschen oder Unternehmen im System der „natürlichen Freiheit“ zum Wohl der gesamten Gesellschaft beitrage. Es scheint mir fast überflüssig zu erwähnen, dass in der Lebenszeit von Adam Smith, dem Merkantilismus, die „natürliche Freiheit“ der westeuropäischen Gesellschaft von den blutigen Kolonialgemetzeln in den „neuen Welten“ und den Hexenverbrennungen begleitet wurde. Die Theorie der Unsichtbaren Hand wird in den Wirtschaftswissenschaften bis heute hochgehalten. Aber ebensowenig wie wir die unsichtbare Hand im Kapitalismus als Konzept akzeptieren sollten, um Unternehmen, Konzerne und uns selbst aus der Verantwortung ziehen zu können, so sollten wir auch den Literaturkanonisierungsprozess und den daraus resultierenden Kanon nicht als wohlwollend entstandene Repräsentation der Literaturgeschichte auffassen, sondern den Kanon vielmehr als ein Problem, ein hierarchisches Geflecht erkennen, das es kritisch zu hinterfragen und zu verändern gilt. Aber warum überhaupt? Ja, warum eigentlich?

Literatur kommt aus der Gesellschaft und bildet diese ab. Warum sollte sie also unschuldiger sein als die anderen Signifikanten dieser Gesellschaft? Sie ist ihr Produkt und ihr Träger. Sie beeinflusst weitere Generationen, reproduziert Normative und legt fest, was subversiv, also nicht mehrheitsgesellschaftsfähig ist.
Es gibt als Schriftstellerin oder Studentin an einem literarischen Institut drei Möglichkeiten, sich auf formaler Ebene zum existierenden Kanon zu verhalten: Internalisieren, eine Gegenposition einnehmen oder höfliche Ignoranz. Was die höfliche Ignoranz angeht, kann sie leicht ausgeschlossen werden. „Niemand wird bestraft, wenn er nicht in das Gespräch der Zivilisation eintritt“, schreibt Schwanitz, Verfasser von Bildung. Alles, was man wissen muß, einer Lektüre, die versucht, den Kanon des Allgemeinwissens unserer Zeit zusammenzufassen und die ich vermehrt bei Kolleginnen und Freundinnen ohne Abitur im Bücherregal entdeckt habe. Er fügt hinzu: „Und so darf sich jeder aus der Kultur verabschieden, ohne dafür belangt zu werden. Denn er trägt ja selbst den Schaden. (…) Er bewegt sich in seiner eigenen Kultur wie ein Ausländer. Er versteht ihre Sprache nicht, er ist wie einer, der sein Erbe ausgeschlagen hat.“ Selbst die intentionale Wissensverweigerung kann eine somit nur in eine Position der Schwäche versetzen. Die Gegenposition einzunehmen würde bedeuten, eine Avantgardeposition zu etablieren. Aber was wäre eine Avantgardeposition in der Postmoderne? So wie der Glaube an Fortschritt und Wachstum mindestens seit der Finanzkrise erneut ins Visier der Kritik geriet, so stellt sich auch für die literarische Kanonisierung, die seit der Moderne den Innovationstrieb in der Literatur auszeichnet, dieselbe Frage: Und nun? Haikus schreiben? Theater bietet zumindest noch die Möglichkeit auf Sprache zu verzichten, aber so ein Roman ohne Worte? Auf der formalen Eben bleibt einer nur, sich am vorgelegten Kanon zu orientieren, liegt einer daran mitzureden und verstanden zu werden. Und das gilt für Minderheitenschriftstellerinnen, egal ob Frauen, Homosexuelle oder Migrantinnen umso eindringlicher, müssen sie doch jedes Abweichen sowohl auf der sprachlichen als auch der inhaltlichen Ebene durchschlagend argumentieren können, um in der „etablierten“ Literaturszene ernst genommen zu werden. Lediglich auf der Produktionsebene findet sich heute die Möglichkeit dem „Mainstream“ – und damit meine ich sowohl jene Literatur, die sich monetär verwerten lässt, als auch jene, die vom Feuilleton hochgehalten und somit als kulturell verwertbar betrachtet werden kann – etwas entgegenzusetzen.

Es ist nicht meine Intention, die Notwendigkeit eines Kanons an sich in Frage zu stellen, also den Vorschlag zu machen, den Kanon abzuschaffen. Schließlich ist es ein legitimes Bedürfnis als Leserin, die einem unüberschaubaren Angebot ausgesetzt ist, Vorschläge entgegen zu nehmen, als Schreibende einen Orientierungspunkt zu haben. Auch die Börse, der wohl flexibelste Kanon unserer Zeit, sollte wohl nicht einfach so abgeschafft werden(?). In der Literatur geht es auch um die Frage, wie und wo ein Kanon als Rahmen, als Regel oder Konvention oder als Norm fungiert. Siegfried J. Schmidt erklärt in seiner Schrift Abschied vom Kanon? Thesen zur Situation der gegenwärtigen Kunst: Je bewusster, ausformulierter und daher anzweifelbarer ein Kanon werde, desto größer werde die Gefahr unflexibler Normierung (Akademismus); desto deutlicher werde der jedem Kanon inhärente Modus impliziter Zensur als Ausschluss anderer Möglichkeiten, was sich im Handeln der Schreibenden als permanente Selbstzensur manifestieren könne.
Zurück ans Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Inzwischen saß ich im fünften Semester. Mir war bereits ganz schwindlig vor lauter weißen Männernamen, die in den ersten vier Semestern in meinen Kopf geklopft wurden, nachdem ich sie nach meinem Abitur mühsam durch interessantere Alternativen ersetzt hatte. Aber ich hoffte noch immer, dass es entgegen aller bisherigen Erfahrungen dennoch möglich sein sollte, dass ältere weiße Männer meinen Erwartungshorizont an sie durchbrechen könnten. Ich überflog die Literaturliste. Auf den ersten Blick sah es ganz gut aus. Erst bei längerem Hinsehen fiel mir etwas unangenehm auf. Der Frauenanteil – und gleich darauf das viele Weiß. Und das, obwohl die Liste nicht auf deutschsprachige Autorinnen beschränkt war, also einen Hauch von Internationalität suggerierte. Zehn Prozent Frauen. So sei das eben, erklärte meine inzwischen von mir genervte Professorin. Es spiegle die Wirklichkeit.

Simone Winko führt in ihrer Erklärung des Kanons als Invisible-Hand-Phänomen aus, dass als Kanon ein Korpus von Texten aufzufassen sei, an dessen Überlieferung eine Gesellschaft oder Kultur interessiert sei. Der Kanon sei „gemacht“ und habe in mehrfacher Hinsicht etwas mit Macht zu tun. Mit dem Aufgreifen des wie bereits erwähnt in den Wirtschaftswissenschaften gängigen Unsichtbare-Hand-Phänomens verweist Winko, ob gewollt oder nicht, auf den dem Kanon inhärenten Fortschrittsgedanken einerseits und andererseits auf die Praxis der Postmoderne, Herrschaftsverhältnis in eine unsichtbare Macht zu abstrahieren und damit die Profiteure dieser unsichtbaren Machtflüsse aus ihrer Verantwortung zu nehmen.
Ortrun Niethammer bringt es in Kanonisierung als patriarchalischer Selektionszwang auf den Punkt, wenn sie meint, Kanonbildung sei immer auch determiniert durch die Geschlechterfrage. Ich würde an dieser Stelle die Frage nach der Hautfarbe im Sinne der Machtposition in einer Gesellschaft miteinschließen und im weiteren Verlauf parallel mitdenken wollen. Denn das Geschlecht, so Niethammer, spielt bereits dann eine Rolle, wenn rezensiert wird und es darum geht, Werkausgaben zu veranstalten.
Mittels des Vergleichs zwischen Gabriele Reuter und Theodor Fontane kommt Ortrun Niethammer anhand der Auswertung einer Studie zu folgendem Ergebnis: Die Romane „Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens“ von Gabriele Reuter und „Effi Briest“ von Theodor Fontane hatten beide in ihrer Zeit sehr hohe Auflagen und wurden weithin besprochen. Trotzdem hat nur Fontane den Status eines Klassikers erlangt. Warum? Niethammer führt es auf die bei Gabriele Reuters fehlende Werkausgabe zurück. Anders als bei Fontane konnte damit ihr Roman über die Zeit verpuffen. In wessen unsichtbaren Händen lag aber damals die Macht, Werkausgaben herauszubringen? Selten wurden Werkausgaben weiblicher Autorinnen gedruckt. Bloßer Zufall? Einfach eine andere Zeit? Wenn dem so wäre, warum werden dann heute diese Mängel von damals nicht nachgeholt? Die Liebe des Buchhandels zu toten Autorinnen war immer schon groß. Nichts stünde dem heute im Wege. Reuters statt Fontane. Warum nicht?
Schließlich wurde der Kanon im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts rückwirkend verändert und als ein literarischer Entwicklungsprozess von der Antike bis in die Gegenwart, als eine lineare Linie des Fortschritts gezeichnet.

Erinnern wir uns an dieser Stelle zurück an Monique Wittigs Point of View: Das Allgemeine und das Besondere.
Geschichtsschreibung, das ist heute common sense, ist keine neutrale Aufarbeitung von Fakten, sondern eine Selektion aus einer bestimmten Perspektive, der Perspektive des Allgemeinen, begrenzt durch das dominierende Ideensystem der jeweiligen Zeit.
Versteht man den Literaturkanon wie Simone Winko als Prozess, an dem Literaturkritik, literarische Zeitschriften, Verlage, Druckereien, Institutionen der Literaturvermittlung bis hin zu Schulen und Universitäten beteiligt sind, so stellt sich die Frage, in welchen Händen konkret diese Institutionen in der Moderne waren und zum Großteil heute noch sind. Die Frage lautet: Wessen Point of View wird im Einzelnen und dann gebündelt zur Selektion welcher Texte und welcher Autorinnen herangezogen? Und wer drückt mir die Literaturliste in die Hand, auf der nur zehn Prozent Autorinnen vertreten sind? Keine einzige schwarze Autorin. Warum steht auf dieser Liste nicht Toni Morrison, die doch immerhin den heteronormativ hochgehaltenen Literaturnobelpreis bekommen hat? Wessen Wirklichkeit spiegelt diese Liste? Selbst Michael Krüger meint, dass sich jetzt, wo immer mehr Frauen im Literaturbetrieb leitende Funktionen einnehmen, wohl viel verändern werde. Diese Schlussfolgerung zweifle ich an. Andere Teilsysteme der Gesellschaft wie Politik und Wirtschaft haben zur Genüge das Gegenteil bewiesen. Allzu sehr werden Frauen dazu angehalten, in sogenannten Männerberufen die „besseren“ Männer zu mimen, weil sie sonst schnell wieder draußen sind. Statt also auf ein Matriarchat zu bauen, sollte auf allen Ebenen der Bestände des Literatursystems, also auf institutionalisierter Ebene, ein bewusster Rekanonisierungsprozess eingeleitet werden. Forscherinnen sollten sich ihren Point of View bewusst machen und die blinden Flecken, die mit ihm einhergehen. Es geht nicht darum, Werke oder Autorinnennamen zu streichen, sondern ihre Gewichtung erneut zu prüfen und gegebenenfalls durch bisher verkannte Texte und Autorinnen entsprechend zu ergänzen oder zu ersetzen. Dabei müssen sowohl die Textqualität als auch die (Un)Möglichkeiten der Autorin, ihr Können zu einer gegebenen Zeit durchzusetzen, berücksichtigt werden. Da Frauen auch noch zu Beginn der Moderne – nach der Erfindung des Buchdrucks, dem Anstieg der Alphabetisierung, also dem Anfang des Buchhandels, wie wir ihn kennen – häufig unter männlichem Pseudonym schrieben, muss auch diesem Phänomen nachgegangen werden. Grundsätzlich ist es notwendig, die Frage nach der Autorinnenschaft erneut aufzugreifen und kritisch zu hinterfragen.

„Was liegt daran wer spricht, hat jemand gesagt was liegt daran wer spricht?“
Foucault meint, dass der Begriff des Autors den Angelpunkt der Individualisation in der Ideengeschichte, der Geistes- und Literaturgeschichte sowie der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte bildet. Der Autorenname sei nicht einfach ein Element in einem Diskurs. Er besitze in Bezug auf andere Diskurse eine bestimmte Rolle: Er garantiere ihre Einteilung und bewirke außerdem ein In-Beziehung-Setzen der Texte zueinander. Es gehe beim Autorennamen nicht einfach darum, die Quelle, sondern darum, einen Hinweis auf ihre Zuverlässigkeit anzugeben. Weiters macht laut Foucault der Autor eine Begrenzung der Fiktion möglich, einer Fiktion die bedrohlich für die Bedeutungen in einer Welt ist, in der man nicht allein mit seinen Ressourcen und Reichtümern ökonomisch verfährt, sondern auch mit seinen eigenen Diskursen und ihren Bedeutungen. Der Autor sei das Prinzip der Ökonomie in der Verbreitung des Sinns.
Anders geht Martha Woodmansee in ihrer Analyse zum Autor-Effekt vor. Sie schreibt, dass man unter einem „Autor“ den alleinigen Schöpfer einmaliger literarischer bzw. künstlerischer „Werke“ verstehe, deren Originalitätsstatur ihnen den Schutz durch das geistige Eigentumsrecht, das als „Urheberrecht“ oder „Autorrecht“ bezeichnet wird, zusichere. Wobei das Urheberrecht, obwohl im Wort falsch suggeriert, selbst eine Erscheinung der Moderne ist. Erst mit dem Buchdruck und damit der Möglichkeit, Texte in unbestimmter Auflage zu produzieren, und der damit einhergehenden Macht von Verlagen und Druckereien, die Produzentinnen der Texte auszubeuten, wurde für den Autor das Recht auf einen Anteil an seinen Texten unerlässlich. Nicht, weil die Spezialisierung an sich schlecht war, sondern weil der Besitz der Produktionsmittel – wie in allen Wirtschaftssparten – gegenüber dem zu Produzierenden eine Abhängigkeit zwischen Produzent und Autor generierte, die sich für den Autor nachteilig auswirkte und bis heute auswirkt. Behalten wir diesen Ansatz im Hinterkopf. Auf die Produktionsverhältnisse im Literatursystem komme ich noch zurück. Gleichzeitig brachte die Domäne auf einen Text oder mehrere Texte ein Bild hervor – auf der bereits von Foucault angesprochenen Individualität beruhend –, das sich bis heute hält. Woodmansee beschreibt es als den Typus einer mittellosen, sonderbaren und zerrissenen Person, die der Büchermarkt anzieht und als billigen Schreiberling zu benutzen vermag, und zugleich ein Individuum, das den Gebrauch der Druckmedien selbst nötig hat, um bestimmte eigene Bedürfnisse existentieller Art wie Broterwerb, sozialen Status und Lebensinhalt im Allgemeinen zu befriedigen. Das Bild der armen, isolierten aber genialen Dichterin, der in Abgeschiedenheit die göttliche Eingebung zuteil wird. Würde sich dieses Bild nicht bis in unsere heutige Zeit halten, dann gäbe es nicht so viele Schreibstipendien, die eben auf diese Rahmenbedingungen ausgerichtet sind. Raus aus dem Kontext, rein ins Nichts und schaffe etwas Großartiges. Zweimal las ich Texte von Kommilitoninnen, die Resultate solcher Aufenthaltsstipendien waren. Bei ersterem Text erkannte ich, ohne es vorher zu wissen, sofort das Waldstipendium in Österreich. Minute für Minute war der Tagesablauf dokumentiert, das qualvolle Nichtvergehen von Zeit, die es abzusitzen galt, wie alle Gedanken sich nur um das Hier und Jetzt drehen konnten. Letztlich das Tagebuch einer Waldstipendiatin. Zweiter Text offenbarte bereits im Titel – Mein Schreibstipendium – das Dilemma. Der Vorschlag der leitenden Professorin war, sich bei ortsgebundenen Schreibstipendien selbst das Verbot aufzuerlegen, über eben jenen Ort zu schreiben. Schade eigentlich. Interessanter wäre eine Diskussion über die der Schriftstellerin als natürliches Charakteristikum suggerierte Flexibilität gewesen. Wie in keiner anderen Berufssparte wird bei Künstlerinnen und speziell Schriftstellerinnen davon ausgegangen, dass ein monatelanger Ortswechsel, meist einhergehend mit einer Trennung von Familie, Partnerin und Freundinnen genau das richtige sei, um ihre Kreativität zu fördern und in der Einsamkeit oder mit anderen Leidensgenossinnen ihrem auf das monatliche Entgelt dieses Stipendiums angewiesenen Genie zu fröhnen. Warum bewerben sich trotzdem so viele angehende und bereits etablierte Schriftstellerinnen um Aufenthaltsstipendien? Von keiner Kommilitonin oder Kollegin hörte ich je Begeisterung über den Ort, lediglich ein Aufatmen über die finanzielle Absicherung einiger Erwerbsmonate.
Ein weiterer Punkt, der zu den Produktionsbedingungen von Literatur gehört: die materielle Bedingtheit.
Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zurück zu den Inhalten. Denn letztlich kommt es nicht immer nur darauf an wer spricht, sondern zeitweilen auch darauf, was und wie wer spricht, als die literarische Qualität.

Legen wir die Themen, die in einem Text explizit verhandelt werden beiseite und unterwerfen uns für kurze Zeit der dominanten Sichtweise. Themen, das wird jede einsehen, sind leicht als subjektive Präferenz diffamierbar und können somit nicht dem Anspruch der Objektivität genügen. Wer wäre nicht alles disqualifiziert, würden Themen den Wert der Texte bestimmen. All jene weißen Stimmen, die verzweifelt, aber beständig um sich selbst kreisen. Sie müssten weichen. Kein Wunder, dass Themen kein Thema sind. Betrachten wir also die Form. Nach klassischen Wertmaßstäben wird das „Schöne“ als visuell Schönes verstanden. Für das literarisch Schöne ließen sich Übertragungen vornehmen. Nach Simone Winko wären Befunde auf der lautlich-rhythmischen Ebene zu erwarten, ebenso wie eine Vorliebe für bestimmte Gestaltphänomene, etwa Kreisstrukturen, symmetrische Beziehungen und Harmonie im Sinne der Gleichgewichtigkeit von Kohärenz und Texteinheiten. Wobei sie nicht positiv, eben als schön, sondern auch negativ eingestuft werden können, etwa von der theoretischen Position einer negativen Ästhetik aus als anachronistisch oder ideologisch verdächtig. Es wird sofort deutlich, dass auch diese Kriterien problematisch sind, weil doch recht subjektiv und selbst wenn in einer Massenbeurteilung identisch, so ist man doch heute dem Schönheitspostulat ebenso wie dessen Gegenpol gegenüber skeptisch. Eine weitere Möglichkeit der Beurteilung wäre die literarische Innovationskraft eines Textes und eben hier nicht mehr zu trennen von der den literarischen Status Quo ihrer Zeit transzendierenden Autorin. Spätestens hier müssen Autorin und literarisches Werk verschmelzen. Einerseits aufgrund der anzitierten Argumente von Foucault und andererseits ist es der Geschichtsschreibung unserer Zeit geschuldet, dass hinter jeder Innovation, jeder Revolution Namen im Sinne einer Autorinnenschaft in die Verantwortung gezogen werden. Da aber die Postmoderne kein revolutionäres Potential im Sinne einer literarischen Avantgarde generieren kann, bleibt nur noch eine Möglichkeit: Nicht das literarische Werk einer Autorin, sondern die (Lebens)Geschichte und im Fall von weiblichen Autorinnen mindestens noch das Aussehen der Autorin müssen in den Focus genommen werden. Ihre (Lebens)Geschichte bürgt für die Qualität der literarischen Arbeit: über Realismus und Authentizität, die beide über die Biographie gewährleistet und wenn möglich über das Aussehen vermarktet werden. Eine Entwicklung, die unbeabsichtigt und auf hinterhältige Weise der Minderheitenschriftstellerin, insbesondere der migrantischen Schriftstellerin zugute kommt. Unbeabsichtigt deshalb, weil es bei dem Trend, dem Interesse, zum Beispiel nicht um die Lebensumstände, die Schwierigkeiten der Schriftstellerinnen mit Migrationshintergrund geht. Es geht darum, was sich von ihren Erfahrungen ausschlachten lässt, was vermarktbar ist. In einem Seminar am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig wurden ein Semester lang die Werke ehemaliger Studentinnen des Instituts besprochen. Wenn möglich wurden die Autorinnen zu den Besprechungen eingeladen und zu ihrem Werk befragt. Der Roman von Olga Grjasnowa, Der Russe ist einer der Birken liebt, gehörte zu den ausgewählten und die Autorin erfreute uns mit ihrer Anwesenheit. Bei der Diskussion um den Inhalt beanstandete die Professorin mehrmals, dass die Kindheitsgeschichte der Protagonistin des Romans auf autobiographischen Erfahrungen fußen müsse und war von dieser Überzeugung nicht abzubringen, obwohl Olga Grjasnova es mehrmals dementierte.

Im deutschsprachigen Raum gibt es zwei Literaturpreise, die sich explizit an deutschsprachige Schriftstellerinnen nichtdeutscher Muttersprache richten. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung und der österreichische Hohenemser Literaturpreis. Den Hohenemser Literaturpreis verfolge ich jährlich, einerseits als Teilnehmerin, andererseits als interessierte Beobachterin. Etwas missfiel mir seit Beginn an dem Aufruftext, aber erst nachdem er bereits zweimal vergeben wurde, begriff ich, was es war. „Die einzureichenden Arbeiten sollen in literarisch überzeugender Weise nicht nur migrantische Erfahrungen, sondern in freier Themenwahl das Ineinandergreifen verschiedener kultureller Traditionen und biographischer Prägungen vor dem Hintergrund einer sich beständig wandelnden Gegenwart thematisieren – einer Gegenwart, in der Sprache und Literatur wie auch Identität keinesfalls als Konstanten anzusehen sind.“ Über diese Preisausschreibung soll „migrantischen Kulturschaffenden und dem, was sie an Neuem und Unerwartetem einbringen, mit diesem Literaturwettbewerb ein Forum“ gegeben werden. Bei der ersten Ausschreibung 2011 setzte ich mich noch vor meinen Computer und collagierte eine Geschichte über den Migrationsverlauf meiner Eltern und wie er sich auf mich auswirkte. Bei der zweiten Ausschreibung verzichtete ich auf die Teilnahme. Bei der dritten beschloss ich mit einem Text teilzunehmen, der absolut nichts mit der Vorgabe zu tun hatte. Denn warum, so frage ich mich, sollte ich mich als Migrantin zweiter Generation eben auf diesen Themenkomplex beschränken, überhaupt automatisch das Bedürfnis haben, Migration zu meinem Steckenpferd zu machen; und warum soll mein literarischer Mehrwert für die deutschsprachige Literatur über meine Migrationserfahrungen oder die meiner Eltern bestimmbar sein? Und warum sollte ich mich mehr als andere mit dem „Ineinandergreifen verschiedener kultureller Traditionen und biographischer Prägungen“ beschäftigen wollen? Als ob ich eine natürliche Expertise dafür mitbrächte und selbst wenn dem so wäre, als ob ich diese Expertise in weiterer Folge natürlich teilen wollen würde. Trotzdem bin ich der Meinung, dass jegliche Minderheit, und ich meine Minderheit im Sinne der Macht, die sie in der Gesellschaft hat, in ihrem künstlerischen Schaffen zusätzlich gefördert werden muss. Jedoch nicht, um einem von der „zu braven deutschen Gegenwartsliteratur“ gelangweilten Literatursystem einen Happen Exotismus hinzuschmeißen. Nicht für ihre Biographien und Traumata, sondern wegen ihrer fehlenden Netzwerke, wegen der erschwerten Startbedingungen und manchmal auch wegen der finanziellen Rahmenbedingungen, in denen Minderheiten arbeiten. Denn es gibt keine Frauen- und Minderheitenliteratur, und deshalb muss Frauen- und Minderheitenliteratur gefördert werden.

In der Ökonomie und den Wirtschaftswissenschaften wird nur allzu gerne im Zuge der Rechtfertigung eines kapitalistischen Status Quo das folgende Argument herangezogen: Konkurrenz schürt Innovation. Das Bestreben oder der Druck, eine andere Person in ihren Leistungen zu überbieten, steigert die Kreativität. Im Wirtschaftsleben bringt die Konkurrenz neue Produkte hervor – letztlich zum Wohle aller. Wie schon anfangs bei Adam Smith und dem Invisible-Hand-Phänomen erwähnt: der positive Effekt egoistischen Handelns. Ähnlich wie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen erst spät in wirtschaftliche Kalkulationen mitberechnet werden musste und somit einen Preis bekam, so wird auch der Preis der egoistischen Kreativität, nämlich die psychische Verfasstheit eines Menschen, der seiner Umgebung dadurch immer als potentieller Rivale begegnen muss, erst langsam mitgedacht. Vielleicht aufgrund des hohen Therapiebedarfs der westlichen Bevölkerungen? Im Leben freischaffender Schriftstellerinnen ist Konkurrenz in der Welt, in der wir leben, allgegenwärtig. Die Kapazität von Verlagen, neue Autorinnen aufzunehmen, ist begrenzt. Den Hauptgewinn bei einer Preisausschreibung macht immer nur eine, und Stipendien sind ebenso beschränkt und oft an einen Aufenthaltsort gebunden, der sich mit Familie oder anderen Verantwortlichkeiten nur für wenige, meist jüngere Schriftstellerinnen vereinbaren lässt. Die materielle Bedingtheit, so sie nicht durch andere Rücklagen durch Familie oder einen fixen Job abgedeckt ist, zwingt eine dazu, sich der Wettbewerbssituation zu stellen, ob sie will oder nicht. Aber es ist nicht nur die materielle Bedingtheit, auch der Drang nach Anerkennung und die Sehnsucht, einen Platz in der Geschichte einzunehmen, treiben eine weiter und zügig in die Arme eines kapitalistischen Status Quo. Obwohl man eigentlich weiß, dass hinter jedem Namen in der linearen Geschichtsschreibung immer ein Kollektiv stand, das zumeist über den Namen eines „weißen“ Mannes verschluckt wurde.

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist mit der gesamtgesellschaftlichen Nutzung von Computer und Internet ein Wandel zu beobachten. Wo Foucault noch perspektivisch phantasierte – dass genau in dem Augenblick, in dem unsere Gesellschaft sich in einem Veränderungsprozess befinde, die Autor-Funktion auf eine Weise verschwinden werde, die es der Fiktion und ihren polysemischen Texten möglich macht, erneut nach einem anderen Modus zu funktionieren –, beobachtet Martha Woodmansee bereits, dass der Computer jene Konturen auflöst, die für das Überleben der Fiktion vom modernen Autor als alleinigen Schöpfer von einzigartigen und originären Werken essentiell sind. Eine von Andrea Lunsford und Lisa Ede unternommene Studie über professionelle Schreibverfahren zeigt, dass die vorherrschenden Schreibpraktiken heutzutage tatsächlich kollektiver Natur sind. Aus dieser Studie, die untersucht, wie Schreibprozesse im Geschäftsleben, in der Industrie, in der Regierung, in den Natur- und Sozialwissenschaften wirklich vonstatten gehen, gewinnt man den Eindruck, dass nur noch eine letzte Bastion übrig bleibt, die dem Dogma des singulären Schaffensprozesses anhängt: die Geisteswissenschaften und die Künste. Das Bedrängende der Untersuchung besteht jedoch in der Tatsache, dass ungeachtet der sich durchsetzenden kollektiven Tendenzen sowohl die Theorie als auch die Praxis einer Pädagogik des Schreibens (Kompositionsunterricht) noch immer unter der Voraussetzung operieren, dass Schreiben wesentlich und notwendig ein singulärer und individueller Akt sei. Der Unterricht läuft noch immer so ab, als würden Lehrende der Vorstellung anhängen, dass ihre Studentinnen allein herumsitzen und in Isolation schreiben. Deplatzierte romantische Seelen, die in ihrer Dachkammer um Ausdruck ringen, wie Anna Kow in ihren Gedanken zu den Existenzbedingungen des Schreibens in dieser Ausgabe von PS beschreibt. Auch am Deutschen Literaturinstitut werden nahezu keine Seminare angeboten, in denen es darum geht, einen Prosatext oder ein Theaterstück kollektiv entstehen zu lassen.
Der in jeder Schreibwerkstatt spürbaren Konkurrenz der Studentinnen eines künstlerischen Studiengangs untereinander muss man die Konkurrenz zwischen Professorinnen bzw. Dozentinnen und ihren Studentinnen hinzufügen. In einem bereits erwähnten Seminar zu Werken ehemaliger Studentinnen versuchten sich die Professorin und die eingeladene ehemalige Studentin in den Auflagezahlen ihres Erstlingromans eine Viertelstunde lang gegenseitig zu überbieten. Nicht nur erzeugt das bei den Zuschauenden, also den gegenwärtigen Studentinnen, ein gewisses Unbehangen –wird mein Erstling jemals die angeführten Auflagezahlen erreichen? –, sondern es produziert auf der anderen Seite auch ein berechtigtes Misstrauen: Liegt meiner Professorin, meiner Dozentin ehrlich daran, dass meine Kurzgeschichte, mein Theaterstück, mein Roman wirklich so gut als möglich wird?

Was sind mögliche Alternativen zu den in diesem Essay angeführten Verknotungen? Für diejenigen, die sich in einem hierarchischen konkurrenzkapitalistischen Alltag gerne einrichten, ist das eine langweilige Frage. Für andere, denen der Alleingang als Perspektive missfällt und die sich in einer von Sexismen, Rassissmen und Spaltungen durchzogenen Gegenwart auch als nicht „direkt“ Betroffene unwohl fühlen, ist es eine entscheidende. Meine Stellung als Schriftstellerin in der Gesellschaft als eine politische Haltung zu erkennen birgt in sich die Möglichkeit, diese Stellung kritisch zu reflektieren, daraus eine Positionierung zu erarbeiten und zu erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ich mit meiner Position nicht alleine bin. Aufgrund der multiplen Problemstellungen, mit denen wir konfrontiert sind, ist es ein schwieriges Unterfangen, Zusammenhänge parallel zu denken. Allzu gerne werden gerade in kritischen Kreisen Wichtigkeiten gegeneinander ausgespielt. Die Zusammenhänge parallel zu denken, verweigert einer oftmals die Möglichkeit der Klarheit und eines präzisen Lösungsansatzes. Trotzdem gibt es keinen anderen Weg. Die Geschlechterfrage darf nicht unabhängig von der Rassismusdebatte und dem Klassenkampf besprochen und gedacht werden. Alle drei bedingen einander und wurden im Laufe der Geschichte bis heute erfolgreich gegeneinander verwendet, um die Solidarität der Betroffenen zu unterminieren und kollektive Anliegen in persönliche aufzuspalten. Und das obwohl inzwischen jeder und jedem klar sein muss, dass es nur eine wirkungsvolle Widerstandsform gegen Ausbeutung, Diskriminierung und rassistische Hetze gibt: das Kollektive und die Solidarität.

Gottlieb Gaiser erklärt in seinem Buch zu Literaturgeschichte und literarischen Institutionen im Unterkapitel „Die Zensur: Durchsetzung geltender Werthierarchien“, dass Macht nicht funktioniere, wenn sie sich zu erkennen geben müsse. Im Idealfall äußere sie sich in der Internalisierung von obrigkeitlich privilegierten Sinnsystemen, in der nicht hinterfragten Reproduktion erwünschten Denkens und Verhaltens.
Nehmen wir das Bild der alleinschaffenden, isolierten Schriftstellerin, die in Armut lebt, aber glücklich ist, ihrem Drang nach literarischer Produktion nachgehen zu können, als ein Paradigma und gehen wir davon aus, dieses Paradigma sei überholt.
Laut Gaiser ist der Ausgangspunkt die Identifikation eines Problems, das im Rahmen des sozial verfestigten, geltenden Paradigmas nicht adäquat erfasst werden kann und deshalb auf Ablehnung innerhalb der betreffenden Bezugsgruppe stößt. Über zunächst informelle Kommunikationsbeziehungen zur Weiterentwicklung und Diskussion der Innovation entstehen erste Gruppenstrukturen, die zur Formulierung eines „Dogmas“, gleichsam einer Gruppenverfassung in Form einer Forschungsstrategie oder auch nur einer Problemstellung führen. Parallel zur gemeinsamen Forschung und Veröffentlichung einer solchen „Paradigma-Gruppe“ verläuft der systematische Versuch, Studenten und andere Gleichgesinnte für das Projekt zu rekrutieren, um einerseits die Forschung ausweiten und andrerseits die Vermittlung der Innovation über das eigene Umfeld und die eigene Generation hinaus sicherzustellen. Gleichzeitig setzt ein Abgrenzungsprozess ein, über den die Mitglieder einer Gruppe ein in-group-Bewusstsein aufbauen. Außerdem verschärft sich der Konflikt zwischen einer solchen „alternativen“ Gruppe und der etablierten scientific community tendenziell dadurch, dass sich mit dem Wachsen der Gruppenkapazität das Bedürfnis nach Verbreitung und Anerkennung der wissenschaftlichen oder sozialen Arbeit verstärkt. Aus dieser Situation heraus unternehmen die Gruppen den wohl wichtigsten Institutionalisierungsschritt: die Gründung einer Zeitschrift/einer Plattform.

In jedem Fall entsteht über das solidarische Miteinander ein kollektiver Zusammenhang, eine Plattform des Austausches und ein Punkt, einer der vielen, von dem aus versucht werden kann, das Bestehende mittels gemeinsamen Reflektierens, Netzwerkens und Handelns zu unterwandern.
Ich wollte im Teilen meiner Gedanken zur männlich-weißen Dominanz in der Sprache, zum männlich-weißen Literaturkanon, zum nicht-eingelösten Freiheitsversprechen individueller Autorinnenschaft, zur fragwürdigen Spezifizierung literarischer Qualität und zur psychischen Problematik des permanenten Gegeneinanders ein überholtes Wirtschafts- und Kunstsystem ausweisen, dem wir nur mittels solidarischen Handelns und Schaffen und Ausweiten kollektiver Netzwerke konstruktiv entgegentreten können. PS ist ein kollektiver Schritt in eben diese Richtung.

 

  

Inspiriert von:

Silvia Federici: Caliban und die Hexe
Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiss
Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible-hand-Phänomen
Ortrun Niethammer: Kanonisierung als patriarchalischer Selektionszwang?
Hartmann Korte: Das muss man gelesen haben!
Michel Foucault: Schriften zur Literatur
Martha Woodmansee: Der Autor-Effekt. Zur Wiederherstellung von Kollektivität.
Siegfried J. Schmidt: Abschied vom Kanon? Thesen zur Situation der gegenwärtigen Kunst
Gottlieb Gaiser: Literaturgeschichte und literarische Institutionen
Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur
Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen
Paul A. Samuelson: Volkswirtschaftslehre
Birgit Mahnkopf/Elmar Altvater: Grenzen der Globalisierung
Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie
Karin Fischer: Entwicklung und Unterentwicklung
Jan Pospisil: Die Entwicklung von Sicherheit
Söllner Fritz: Die Geschichte des ökonomischen Denkens
Maria Mies: Patriarchat und Kapital 

sowie durch Gespräche mit: Sabine Scholl, Sasha Marianna Salzmann, Olivia Golde und Jiaspa Fenzl.

 



Kaśka Bryla

Essay#1PS