PS im Gespräch mit Heike Geißler

„Dass man mitkriegt, wo man stumpf wird“

 

Je älter ich werde, desto weniger Lust habe ich auf Arbeit. Und Arbeit ist übrigens nie einfach nur das, was anstrengend ist oder mich vom Nichtstun abhält. Arbeit ist das, was ich gegen mein Interesse, gegen meinen tiefsten Wunsch, gegen meine Überzeugung tun muss.1

PS1: Uns hat diese Stelle aus I Call it*, einem Text von dir, inspiriert für dieses Gespräch.

PS2: Ist es so , dass mit dem Alter oder mit dem Zuwachs an Erfahrung immer mehr Tätigkeiten Arbeit werden, weil eine Entzauberung idealistisch besetzter Räume vor sich geht?

Geißler: Ja.

PS2: Und wenn ja, was…

Geißler: Lacht.

PS2: … also wenn es so ist, gibt es dann Momente in deinem Arbeiten als Schriftstellerin und deren Verlauf, im Literaturbetrieb, die das Schreiben entzaubert haben und zu Arbeit in dem von dir beschriebenen Sinne gemacht haben? Zu etwas, das gegen deine Überzeugung und Interessen geht?

Geißler: Ja, natürlich, da ist ganz viel. Ich weiß nicht, ob ich jemals verzaubert war, ob ich jemals so einen Zauber gesehen habe, eher einen, ja, recht oberflächlichen Reiz, der mich interessiert hat. Also Dazugehören-Wollen oder so etwas. Ich hab mit Anfang 20 das erste Mal veröffentlicht. Wirklich das allererste Mal veröffentlicht, gleich ein Buch. Ich kannte diesen Prozess vorher überhaupt nicht und hab ihn dann erst kennengelernt, und – Zauber war da eigentlich nie. Also, ich habe schon sehr schnell gesehen, dass das ´ne relativ realistisch arbeitende Welt ist, mit sehr vielen kapitalistischen Hintergründen und mit Druck: Bestimmte Verheißungen und Erwartungen, die an einen gestellt werden, kann man wahnsinnig schnell enttäuschen und bekommt dann bestimmte Anerkennungen sofort nicht mehr. Also, einen Zauber habe ich nie gespürt, sondern eher immer nur Druck und…

PS1: Auch im Schreiben nicht, also auch vor der Veröffentlichung?

Geißler: Das Schreiben ist anders. Aber Zauber ist es auch nicht. Bei mir war das immer Rettung, ich musste mich retten. Ich habe nie so in meiner Jugend geschrieben: an einem schönen Tisch und in aller Ruhe. Das war immer extrem unsortiert und nervös und unsicher und scheu und so weiter. Erst mit etwa 18 hab´ ich damit angefangen, und eigentlich hab´ ich versucht, eine Art klassische Frauenliteratur zu schreiben.

PS1: Was ist das?

Geißler: Hm, man könnte sagen: Kategorie Groschenroman. Also Bianca oder sowas. Das sind auch Rollenbilder, mit denen ich aufgewachsen bin. Es gab da Filme, Verfilmungen, wie von Rosamunde Pilcher-Büchern, bloß dass sie in Deutschland spielten. Mit sowas bin ich groß geworden, und ich hab´ versucht, sowas literarisch – ohne das literarisch und Literatur und Schreibversuch zu nennen – zu bedienen. Ich habe das dann auch nicht weiter gemacht. Aber der Traum war: Ich möchte ein Buch schreiben. Das ist das Ding – wie diese Kampagne: Schreib dein Buch! Das bedient den Traum, den ganz viele Leute haben. Und dann war das Schreiben tatsächlich der Versuch, meine Welt zu ordnen, und das war auch dringend notwendig, weil niemand meine Welt irgendwie sortieren konnte. Der Betrieb hatte einfach seinen Reiz als etwas, das anders genug war, um besser zu sein als das, was ich hatte, sozusagen. Vielleicht hat er auch eine Form von bestimmter, zauberhafter Inszenierung. Als der Betrieb dann da war, war davon tatsächlich nichts mehr zu spüren, wenn man´s genau betrachtet. Momenthaft ja: Ich kann also oberflächlich, schnell, gelobt werden, viele Feste besuchen und so weiter, und ich glaube, damit habe ich mich auch sehr aufgehalten. Das hab´ ich schon benutzt und gemacht und verwechselt mit der Beschäftigung, mit Betrieb und Schreiben.

PS1: Wurde das mit der Zeit anders? Ist das jetzt anders?

Geißler: Na klar, das ist eigentlich da schon anders geworden, als mein erstes Buch erschien und mein zweites Buch dann nicht. Ich hab mich sehr schwer getan, das zu schreiben, weil man immer hört, das zweite ist schwierig und…

PS1: Lacht. Und dann ist es auch so…

Geißler: Lacht. Dann ist es auch so, ich glaube schon. Und weil ich es aber auch nicht konnte, ich hatte kein Handwerk gelernt. Ich weiß auch nicht, ob ich das jetzt besser kann. Jedes Buch ist so schwierig. Und ich hatte keinen Modus. Wie schreibt man denn? Das erste Buch muss mein Leben retten. Pathetisch kann man das sagen, aber so war es auch ungefähr. Das zweite Buch hätte eigentlich auch auf eine Art mein Leben retten müssen, aber das konnte ich ihm nicht mehr zugestehen. Ich hab´ auch versucht, mich zu schützen mit dem zweiten Buch. Es sollte etwas weniger direkt sein und – lange bin ich immer nur bis zu Seite 30 gekommen. Nachdem es dann doch erschienen war, hab´ ich gemerkt, wie man aus dem Betrieb wieder rausrutscht. Gerade warst du aufgenommen, hast einige Hoffnungen erfüllt, andere nicht – und rutschst dann wieder raus. Und bist nicht einmal unbedingt selber schuld daran. Da sind ja auch viele Dinge – der Verlag wurde verkauft, die Lektorin geht weg –, die ich gar nicht beeinflussen kann. Leute sagen, es wurde keine Werbung für dein Buch gemacht, der Text war auch irgendwie schwieriger als der andere und so weiter. Aber vieles hat man gar nicht in der Hand bei so einem großen Verlag. Ich hatte auch keine Ahnung, was man in der Hand haben kann. Das hab ich jetzt viel mehr. Die Zeit zwischen zweitem und drittem Buch war dann die, wo es eigentlich interessant wurde, weil ich gemerkt habe, dass ich nur noch neidisch bin. Ich beobachtete alle Kolleginnen und Kollegen, die veröffentlichten, mit Neid. Jedes Buch, das neu war und im Buchladen lag, war mir ein Ärgernis, und alle, die Preise bekommen haben, haben mich zutiefst verstört. Es ist der Klassiker, dass man so bitter wird. Und das mit noch nicht mal 30. Da dachte ich: Das ist ganz schön vertrackt. Wie kann das, was mir eigentlich so wichtig ist, das Schreiben, mich so unglücklich machen, nur weil ich offenbar nicht mehr schreiben kann? Also, nicht mehr schreiben können, stimmt ja nicht, aber nicht mehr veröffentlichen. Und dann habe ich mir selber eine Veröffentlichungsform überlegt und mit einer Freundin zusammen Hefte rausgegeben.

PS1: Als du von deinem ersten Buch gesprochen hast, hab ich mich gefragt, ob du – weil du dich vor der Veröffentlichung als ‚draußen‘, als nicht ausgebildet in dem Betrieb usw. beschrieben hast –, ob du da eigentlich Mitlesende hattest, Mitarbeitende. Wie das Arbeiten da war und wie anders es jetzt ist.

Geißler: Ich hatte weitgehend niemanden, das hab ich erst mal alles allein gemacht. Als ich in Leipzig wohnte, hab ich einmal einen Wochenendkurs besucht mit einer Tatort-Drehbuchautorin, vielleicht war´s auch Polizeiruf. Sie war ganz genügsam, wahrscheinlich 50, würde ich schätzen, und sie trank nur heißes Wasser und hat immer Bilder der Bescheidenheit inszeniert. Das fand ich wahnsinnig eindrucksvoll. Ich war damals 20 und hatte auch überhaupt kein Geld, aber das ist natürlich etwas anderes. Da sitzt eine Person, die ist professionelle Schriftstellerin. Sie hat das studiert, sie gibt Kurse, sie wird gebucht – und lebt aber die meiste Zeit von ganz, ganz wenig Geld und kann sich manchmal nicht mal einen Tee im Kaffeehaus oder sowas leisten. Ich denke oft an sie. Als ich dann in München wohnte, fand ich eine Agentur, die auch Lektorate anbot, da habe ich einen Jahresvertrag abgeschlossen und lange überlegt: Ist das seriös, oder ist das nicht seriös? Das war schon diese Zeit, wo Modelle aufkamen, dass man sehr viel Geld bezahlte, um Dinge zu veröffentlichen. Mit der Betreuerin habe ich dann einige Kapitel des Buches angeschaut, aber das Jahr war schnell vorbei, und ich hab´ viel zu wenig geschickt, weil ich schon wieder studiert habe. Immer war es so, ich hab immer zwei Sachen zugleich gemacht und deshalb kam ich nicht gut voran. Jedenfalls war es das erste Mal in meinem Leben, dass Wörter wie ‚Perspektivenwechsel‘ am Textrand standen. Ich habe das Wort angeschaut und mich gefragt: Was meint sie nur damit? Lacht. Also, ich hatte wirklich keine Ahnung. Und das hat mir geholfen.

PS1: Vorher hast du gesagt, dass du beim zweiten Buch das Bedürfnis hattest, dich zu schützen und weniger direkt zu sein. War das eine konkrete Konsequenz aus der Veröffentlichung des ersten?

Geißler: Was ich beim Schreiben merkte, war, dass ich jede Rezension noch im Kopf gehört habe. Es gab auch viele gute Rezensionen, aber ich hab jeden kritischen Satz gehört danach, beim Schreiben, immer wieder. Vor allem einen Satz aus einer Rezension… Ich weiß ihn jetzt nicht mehr, das ist eigentlich ziemlich toll. Lacht. Halleluja! Es muss ganz schön viel Zeit vergangen sein! Ich hab diese Rezensionen ja immer nach Hause geschickt bekommen. Beim zweiten Buch dann nicht mehr, die sind alle noch im Verlag, ich wollte das nicht mehr. Da waren also all diese Gedanken, die einem übergriffigerweise in den Briefkasten gespült wurden. Das ist ja jetzt noch krasser mit dem Internet; man macht ´nen Google-Alert und ist auf seiner eigenen Facebook-Seite. Damals also hab´ ich immer wieder gemerkt, dass, sobald ich mich vorwage in diese Welt, in diese Schreibwelt, es kein sicheres Schreiben mehr gab, sondern es gab immer nur diesen Gedanken: Jedem Wort droht die Veröffentlichung. Und jedem veröffentlichten Wort droht die Kritik. Es gab keine Schutzzone dafür, also ich hatte sie nicht, und ich konnte sie mir auch nicht herstellen. Der einzige Schutz ist dann vielleicht Rückzug, oder ein bisschen schwurbelig zu werden, was ja viele Leute machen, wenn sie anfangen, über Sprache und neue Sprache nachzudenken, also darüber, wie man eine Sprache für sich retten kann. Zeit ist vielleicht auch so etwas wie eine Rettung davor: dass man langsam wird und so lange braucht, dass es auch kein Schwein mehr interessiert.

PS2: Es ist ja auch ein bisschen verrückt, dass das erste Buch einer Autorin überhaupt so ein großes Gewicht bekommt. Einerseits ist es zwar schön, wenn man viel Aufmerksamkeit bekommt. Andererseits: Es ist das erste Buch, das dann so schwer wiegt, auch weil der Betrieb natürlich neue Gesichter braucht, die dann kurz gehypt werden. War es denn darüber hinaus so, dass manche der Rezensionen auch zu, ich weiß nicht, zu persönlich waren?

Geißler: Also, ich muss sagen, entweder habe ich das ganz gut abgespalten, oder ich hab´ es einfach vergessen. Ich kann diese Frage wirklich nicht mehr beantworten. Vermutlich ist es so. Wenn man sich anschaut, wie Rezensionen geschrieben werden, was über Frauen im Betrieb nach wie vor geschrieben wird, und das ist ja immerhin schon 20, na nicht ganz, lacht, 15, 14 Jahre her. Ich erinnere mich an komische Gefühle, an eine Atmosphäre des Irgendwie-Gefährdet-Seins, aber ich hab das nie auf mein Jung-Sein oder Frau-Sein oder so etwas bezogen. Sowieso war ich ja vollkommen gefährdet, in jeglichem Kontext meines Lebens; ich hab´ immer den Eindruck gehabt, dass das was mit mir zu tun hat. Heute weiß ich, was für Strukturen vorhanden sind, in welchen Strukturen ich auch damals gelebt habe und dass ich eigentlich keine Chance hatte, damit irgendwie konstruktiv umzugehen und mir einen Kontext des Empowerments oder sowas zu suchen. Das Wort war damals auch noch nicht relevant. Eine bestimmte Problematisierung fand nicht statt. Aus heutiger Perspektive würde ich schon sagen, da haben Verlage ´ne große Verantwortung, die können nicht Leute, die vielleicht stark tun, einfach in diese Öffentlichkeit hineinwerfen. Ich glaube, ich werde Zeit meines Lebens recht persönlich und vielleicht sogar zunehmend autobiographisch schreiben. Das ist jetzt überhaupt kein Problem mehr für mich, weil ich weiß, was ich tue. Aber damals wusste ich das nicht, und dieses Ausgeliefert-Sein hat eben auch bedeutet: Der Text war meine Identität, der Text war ich, und ich war auch die öffentliche Person und die private. Also keinerlei Varianten. Sobald diese Professionalität fehlt, fehlt eben auch vollkommen der Schutz. Und der Versuch, sich in einem Buch zu schützen, der geht nach hinten los. Zum Glück. Denn ich finde ja schon, ein Buch ist eigentlich der Raum, den man sich nehmen sollte, in dem man tun sollte, was man wirklich will.
Und was diese Sache „erstes Buch“ angeht – ich weiß es nicht, es ist wahrscheinlich in jedem Bereich so, oder? Dass alle immer dieses erste Ding wollen. Du kriegst dein erstes Kind und wirst mit Geschenken überschüttet, beim zweiten Kind ist das schon nicht mehr so toll. Irgendwie finde ich das schon in Ordnung. Aber es wird halt langweilig, wenn man das selber mal war, und dann geht das Saison um Saison so weiter, und man sieht, wie quasi die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Das ist etwas böse gesagt. Es hat ja aber auch etwas Sensationsgeiles.

PS2: Ich finde es interessant, dass du gerade von dieser Angreifbarkeit gesprochen hast, und wie du die mit der Zeit mit dir ausgehandelt hast. Zugleich ist Saisonarbeit dann wieder so ein Buch, mit dem du, finde ich, dich ganz angreifbar gemacht hast. Darin blickst du auf die „normale“ Arbeitswelt der Gegenwart, versperrst dich gegen eine Akzeptanz gegenüber dieser Welt und sagst: Nein, das hat nichts mit meinem Alter zu tun und nichts mit Gewöhnung, ich möchte mich an diese Dinge nicht gewöhnen! Gab es Reaktionen auf dieses Buch, die mit dem Schlagwort Naivität versehen waren? Oder liest du immer noch die Rezensionen nicht?

Geißler: Ich lese sie meistens nicht. Ich kann eher von Lesungen berichten. Das Wort Naivität ist nicht in der Form gefallen, aber das steckt da mit drin, wenn Leute zum Beispiel sagen: „Wir haben früher viel schlimmere Arbeitsbedingungen gehabt. Also, was willst du denn?“ Ich hab mir das angehört und dann dachte ich: Ja, das glaube ich Ihnen sofort, dass es in den 60er oder 70er Jahren noch viel schlimmer war. Aber warum in aller Welt soll es denn schlimm bleiben? Und das eine Schwere, Schlimme nimmt dem anderen Schlimmen oder dem Berichten darüber nicht die Daseinsberechtigung. Wir können und müssen das alles berichten, und das ist kein Wettstreit des Schlimmen oder des Anstrengenden, des uns über Gebühr Strapazierenden, sondern, ganz einfach gesagt, will ich wirklich, dass die Welt eine gute ist, eine wirklich tolle, lebenswerte Welt, wo alle freundlich sind und auch ich, lacht, selbst ich. Was du gesagt hast, ist eine gute Beobachtung; Ich würde mich diesem Stumpf-Werden schon widersetzen, das finde ich ganz wichtig. Dass man mitkriegt, wo man stumpf wird, wo man aufhört, sich auch emotional erkenntlich zu zeigen, denn man muss ja immer emotional interagieren. Es ist ein Beweis von Absterben, wenn man etwas nicht mehr fühlt, und das sind Anzeichen, die man beobachten muss. Weil sie auch von Ohnmacht zeugen. Es sind ja verschiedenste Dinge, wenn man plötzlich stumpf wird. Warum? Aus Überlastung, aus Überforderung, Trauer, Müdigkeit. Aber definitiv sind da große Dinge dahinter, nach denen man schauen muss und kann.

PS1: Kann man daraus eine Haltung machen? Eine beinahe kindliche Haltung, die vieles einfach nicht als gegeben nimmt, sondern die Umstände als so weit wie möglich zu gestaltende betrachtet? Und da muss ich jetzt auch an Irmtraud Morgner denken und daran, wie sie das beschreibt: das Hexische von Frauen. Dass alle, die ihrer Zeit irgendwie vorgegriffen haben oder Widerstand geleistet haben, von anderen als hexisch beschrieben wurden.

Geißler: Das sind vermutlich Begriffe, mit denen man nicht weit kommt, Kind oder Hexe. Wir brauchen Termini, die konstruktiver und auch stylisher sind – und zugleich wäre genau das wieder nicht das Ziel. Seit ´ner Weile taucht häufiger dieser Hashtag #unlearning auf. Aktives Unlearning ist ja ein Paradoxon. Naiverweise würde ich annehmen, man lernt etwas und vergisst etwas anderes, also man überschreibt sozusagen eine Fähigkeit mit einer anderen. Und das Unlearning zu nennen, ist natürlich auch wieder etwas, das gut klingt, und doch glaub´ ich, das macht schon was, Unlearning. Ja, das ist eigentlich toll. Ich nehme mir vor, heute das und das zu – ja, wie sagt man das auf Deutsch?

PS2: Verlernen trifft es eben nicht ganz, das ist eher passiv, geschieht unter der Hand.

Geißler: Eher entlernen. Jedenfalls, Unlearning, das hat man ein paar Wochen lang und dann ist es eben auch eher was Graphisches und es macht nichts mehr mit einem. Aber wie kann man die Welt da abholen, wo sie gern abgeholt werden möchte und sie dabei vielleicht auch überholen? Oder nicht überholen, aber doch irgendwie den gewissen Anteil der Welt übertölpeln, der immer Schlagworte haben möchte, die nach „das ist der neue heiße Scheiß“ klingen? Also, dieses Buch liegt hier nicht umsonst auf dem Tisch [Tristan Rémy: Klassische Clown-Nummern. Berlin: Henschel, 1962; Anm. d. Red.]. Ich kann das vielleicht gar nicht direkt mit diesen Dingen verbinden, aber Zirkus ist für mich gerade sehr wichtig. Ich habe jetzt für mich auch den Plan gefasst: Ich möchte wahnsinnig gerne Zirkusautorin werden. Es gibt zirkustheoretische Texte, aber es gibt zeitgenössisch einfach nicht viele Texte über Zirkus. Und das würde ich gern machen. Ich glaube, Zirkus kann das, worüber wir gerade sprachen, sehr gut. Er sprengt Grenzen, er ist eine einzige Grenzsprengung und Verblüffung und Außerkraftsetzung von Erwartungen. Ich habe das Gefühl, dass da etwas passiert, das ich zwar mit Sprache versuchen kann und das ich mit Theorien veranschaulichen kann, aber dort passiert es tatsächlich. Ich meine einen gegenwärtigen Zirkus, nicht so einen romantisierten. Da ist unglaublich viel möglich, wo alles zusammenkommen kann. Und wo auch Körper wandelbar sind – Mann und Frau kann man da ganz leicht aufbrechen. Ich hab´ Inszenierungen gesehen, die mich auf so eine Art verblüfft haben, wie es sonst nur die tollsten theoretischen Texte können oder das tollste Kunstwerk, also etwas, das wahnsinnig auf den Punkt trifft. Wo ich sprachlos bin.
Hier in dem Buch sind also so berühmte Clownnummern beschrieben, klassisch aufgeteilt mit Herrn Loyal und dem dummen August und dem Clown. Vorhin hab ich eine Stelle gefunden: Der Clown sagt zum Herrn Loyal: „Sind Sie mutig?“ Und er sagt: „Ja, natürlich.“ – „Dann nehmen Sie ein Streichholz in die Hand, zünden es an, und ich schieße es mit meiner Pistole aus 25 Schritt Entfernung aus.“ Und Loyal fragt: „Hui, klappt das denn?“, und der Clown: „Ja, ich kann aus 50 Schritt Entfernung einer Fliege ins Nasenloch schießen“, – glaubt man sofort. Also, es geht los, und der Clown entfernt sich, und dann hört man Herrn Loyal schreien: „Aua, mein Finger!“ Das Streichholz ist runtergebrannt, und Herr Loyal hat sich den Finger verbrannt. Das ist also der Spaß an der Sache, es wird nicht geschossen und bleibt ganz ungefährlich. Herr Loyal fragt dann: „Aber kennt auch der dumme August den Scherz?“ Der Clown verneint, also soll der August kommen, und Herr Loyal will diesen Scherz mit ihm machen. August wird gerufen, er kommt rein und sagt: „Ich bin da!“ Und dann sieht er Herrn Loyal, also seinen Chef, und sagt: „Nein, ich bin nicht da!“ Das sind so Momente, die mag ich total. Wir haben alle die Möglichkeit, das Gegenteil von dem zu behaupten, was wahr ist. Das beginne ich gerade zu entdecken. Womöglich auch zu lügen. Lügt ihr?

PS1 & 2: Schweigen.

Geißler: Diese Möglichkeit haben wir ja, zu sagen, ich bin nicht da, und dann stimmt es in gewisser Weise. Wir können auch zu Podiumsdiskussionen gehen und auf eine militante Weise, also militant-zärtlich, sagen: Ich bin nicht da. Aber ich bin da. Über solche Sachen denke ich nach. Wie kann überhaupt Protest aussehen? Wie kann auch mein Schreiben aussehen, dass es meinen politischen Ansprüchen und den Ansprüchen an meine Lebensführung gerecht wird? Wie können Veranstaltungen aussehen, so, dass sie interessant sind und Leute erreichen und nicht nur die, die man eh erreicht. Und natürlich weiß ich das überhaupt nicht. Oder immer nur für den nächsten Tag.

PS2: Wie hältst du es denn mit Pathos, oder besser: emotionalem Ausdruck, Wut? Adrienne Rich zum Beispiel hat dafür plädiert, dass Wut und Emotion Raum haben müssen im Feminismus und seiner Sprache. Das ist ja heute immer noch ein Problem, wenn wir Worte hören wie Betroffenheitsliteratur, Betroffenheitsfeminismus. Da gibt es immer noch diese Emotionssperre, und ich wollte dich darauf ansprechen, im Anschluss an den kindlichen, vermeintlich unreifen Ton, der Verschiedenes nicht einfach akzeptiert.

Geißler: Mir fällt dazu gerade ein aktueller Fall ein. In der Süddeutschen gab es eine Besprechung von Claudia Rankines Citizen

PS2: Das hat mich auch….

Geißler: Du hast die Besprechung gelesen?

PS2: Nein, die nicht, das Buch von Rankine.

Geißler: Dann lies die Besprechung mal. Das Buch ist ja ein wunderbares Beispiel für diese Wut.2 Und diese Besprechung, die ist wirklich erstaunlich. Sie ist geschrieben von einer Frau, einer weißen Frau. Selber Autorin, glaube ich. Und sie macht auch diesen Vorwurf der Betroffenheitsliteratur. Die Überschrift sagt schon, was der Text dann auch sagt: Es sei wohl ein wichtiges Buch für die Sache, aber eine Sackgasse für die Literatur. Und darüber könnte man vielleicht sprechen: Was bedeutet so ein Buch, wie das von Rankine, das ein wahnsinnig persönliches Buch ist, das viele Alltagsbeschreibungen hat, aber natürlich über Jahrzehnte hinweg, das sind ja nicht nur vereinzelte Momentaufnahmen. Und was ist die schöne Kreuzung für die Literatur, oder welche Straße braucht die Literatur, wenn wir uns auf das Sackgassenbild einlassen? Warum geht´s da nicht mehr weiter, für die Rezensentin? Das finde ich ja gar nicht, finde das sogar quasi kriminell, denn der Vorwurf einer „Befindlichkeitsprosa“ steht dieser Rezensentin definitiv nicht zu. Sie hat auch in einem Ton geschrieben, dass ganz klar ist: Sie wehrt sich gegen etwas, also man fängt sofort an, zu psychologisieren, denn ich merke die Wut und die Abscheu einer Rezensentin in jedem ihrer Sätze. Etwas an dem Buch muss sie so abgestoßen haben, dass sie diese Abscheu quasi eins zu eins auf die Seiten werfen konnte und nichts durchdrungen hat und sich von nichts durchdringen ließ. Weil sie vielleicht auch permanent von so etwas durchdrungen ist. Es gibt ja auch so einen komischen Neid auf die Darstellung der Anderen in den Medien: Wer ist denn gerade die tollste Randgruppe? Eine Freundin von mir ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, berufstätig, vielleicht sogar doppelt berufstätig. Die ist eigentlich eine Gruppe, die, muss man sagen, nicht stattfindet, medial. Wer macht Politik für sie? Das ist nicht besonders cool, so ein Leben zu führen, auch nicht im Sinne von Vermarktbarkeit, für NGOs oder sowas, da gibt´s viel coolere. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann weiß ich, dass ich manchmal auch Neid verspürt habe auf andere, die quasi ihre Betroffenheit, ihre Befindlichkeiten zum Ausdruck gebracht haben – das ist jetzt absichtlich in diesem Slang gesprochen. Um dann zu merken: Eigentlich ist es ein Problem der eigenen Unsichtbarkeit. Dass ich also bestimmte Aspekte, die mich selber bedrängen, nicht dargestellt finde. Das eigentliche Problem ist aber eh´, dass man keine strukturelle Kritik daraus macht, dass man nicht fragt: Was ist das für eine Perfidität, sich immer das interessanteste Stigma, die interessanteste Befindlichkeit herauszusuchen und sich nicht gleichermaßen um alle zu kümmern? Also: Wo ist diese Gesellschaft, oder der Betrieb, solidarisch? Und diese Solidarität, die findet man nicht außerhalb der eigenen Hoheitszone. So scheint es mir zumindest zu sein. Man muss also seine Befindlichkeiten so verkleiden, dass sie irgendwie durchgehen in dieser Welt. Und sich dann entkleiden, im rechten Moment. Das wäre die Umkehrung von dem, was der dumme August gemacht hat: Man muss es schaffen, dass das, was man anbringen möchte, die ganze Zeit sagt: Ich bin nicht da, ich bin nicht da, ich bin nicht da – und dann aber im rechten Moment sagt: Ich bin da!

PS2: Ich denke, dass es für bestimmte Formen von Wut, gerade weibliche, keinen Kanal gibt. Dass von Menschen, die von etwas betroffen sind, eine Distanzierung erwartet wird, damit sie sprechen können.

Geißler: Und das ist natürlich wahnsinnig schwierig, wenn du eine andere Hautfarbe hast. Wenn du schwarz bist, kannst du dich davon nicht distanzieren. Da ist Mut die Alltagsgröße, die du sowieso brauchst. Ich fand Rankines Buch daher auch nicht mutig, sondern folgerichtig. Sie sagt alles, sie macht sich quasi nackt und zeigt: Was ist der Hintergrund von Wut, von Ausgeschlossen-Sein, von einer schnippischen Reaktion vielleicht. All das zeigt sie, ihr Ausgeliefert-Sein an diese Kategorien, die alle in sich tragen und ständig reproduzieren. Mich hat aber wirklich verblüfft, dass jemand – ich komme noch einmal auf die Rezensentin zurück – genau erfährt, also, wenn sie lesen kann, hat sie´s erfahren, warum dieses Buch geschrieben werden musste. Ich sagte ja vorhin schon, dass das Buch genau der Raum ist, in dem wir machen können, was wir wollen, in dem wir uns ausbreiten können; sofern wir nicht andere beleidigen usw., ist da ganz schön viel möglich. Das ist der Raum der Autorin. Und die Rezension spricht ihr den eben sofort ab. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass eine weiße Rezensentin über das Buch einer schwarzen Autorin spricht, ein Buch zu genau diesem Thema. Das hat mit ganz viel Blindheit und ganz viel reflexhafter Abwehr zu tun. Ähnlich wie Männer oft reagieren, bescheuert eben: „Dann halte ich ihr halt keine Tür mehr auf. Dann helfe ich ihr nicht mehr in die Jacke.“ Oder „Dann mache ich kein Kompliment mehr, wenn das schon… Man weiß ja gar nicht mehr, was man tun darf!“ Das wird immer noch wiederholt, weil das das Missverständnis ist oder quasi das Niveau, auf dem wir öffentlich diskutieren, wohin all diese wahnsinnig klugen Texte, die man finden kann und die bestärkend wirken, irgendwie nicht durchdringen.

PS2: Wir haben ja nun bewusst nicht über Alter geredet in dem Sinne, wie man erst einmal erwartet. Also: Vom fortgeschrittenen Lebensalter. Eine kleine Sache wollen wir dich zum Schluss aber doch dazu fragen. Was hast du dir gedacht, als wir dich um ein Interview zum Thema Alter gebeten haben? Gab es da eine kurze Irritation, etwa: Huch, bin ich jetzt eine ältere Autorin? Oder: Was soll das?

Geißler: Ich glaube, ich habe es wie zur Beobachtung auf meinen Schreibtisch gestellt – so wie die ganze Altersfrage da rumsteht, die ich, glaube ich, permanent beobachte, auf irgendeine Art und Weise. Und dann hab´ ich gedacht: Was bedeutet Alter? Welche Texte fallen mir ein, wo taucht es auf? Und dann schon auch: Wie sieht eine bestimmte Form von Attraktivität aus, auch im Literaturbetrieb, wie wichtig ist es, so und so auszusehen? Aber sobald ich so etwas denke und irgendetwas fürchte, im Sinne von Älter-Werden im Zusammenhang mit Unattraktiver-Werden, also wirklich total blöd, das tut mir für mich selber Leid, dass ich diese Dinge zusammenbringe – aber so bin ich ja quasi aufgewachsen und I have to do my unlearning –, dann fallen mir genug Leute ein, die toll sind, die älter sind. Die Welt ist voll von diesen Leuten, bei denen man lernen kann. Also, ich denke tatsächlich viel darüber nach, aber eigentlich nicht im Sinne von richtig aktiv denken, sondern das ist so ein komischer Subtext. Und das heißt, sobald es Subtext ist, spricht ja alle Welt in einem. Und nur manches ist Input von mir, gewählter Input, wo ich mich selber mit ganz netten Texten unterstütze, um etwas Schöneres zu denken, etwas Konstruktiveres zu denken. Und der Rest ist, sagen wir: Werbung oder eben der Rest der Welt, der auch in mir rumredet. Und dementsprechend komplex wird mein Gefühl und meine innere Reaktion auf eure E-Mail gewesen sein.

 

1 Heike Geißler: I Call it*. In: Metamorphosen 3/2017.

2 Citizen, ein essayistisches Langgedicht über Rassismus und seine Bildwelten. Claudia Rankine selbst beschrieb es als einen Versuch, Lyrik in die ihr zustehende Realität zurückzuholen (2018 bei Spector Books in deutscher Übersetzung erschienen).

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