Lesen

 

Mir kommt vor, als hätte ich immer schon gelesen, seit ich es kann, und seither ist mir auch jede andre Tätigkeit als Zeitverschwendung erschienen. Es ist, als ginge ich in etwas zu Grobes hinein (vor allem beim Kontakt mit Menschen), das ist wahrscheinlich alles allein meine Schuld. Daß ich lese, um nicht leben zu müssen (und deshalb schreibe ich auch). Und ich lese sehr viele Kriminalromane, in denen andere ihr Leben vor der Zeit beschließen müssen, gewaltsam, so wie ich mich mit Lesen von der Zeit abschließen zu können glaube; auch Schund, Trash-Zeitschriften lese ich, egal was, aber es muß, weil mir nichts Passenderes zu meinem Leben einfällt, immer etwas Gedrucktes vor meinen Augen sein. Das Lesen ist das schicke Kleid des Lebens für mich, es bleibt bei mir und schmiegt sich an mich. Andere Menschen können wie Dornen in einen eindringen, sie können einen vernichten, aber man kann sich am Leben halten, indem man sich den Unwahrspruch von Buchstaben vor die Augen hält. Dies ist ein Urteil. Wenn man nichts andres sieht als die Zeichen, dann sehen einen andere nicht, die sich bei näherem Hinsehen als keine Buchstaben entpuppen würden. Mein Vater war genauso. Ich kann mich an ihn nur erinnern, ein Buch vor den Augen. Oder eine Zeitung. Es gibt die Tätigen und die Lesenden, kommt mir vor. Ich bin untätig, aber nicht unlesend und nicht unleserlich. Dabei tritt oft eine Art paradoxer Zustand ein, daß ich, je nach Achtung, die ich dem Lesematerial zolle, im Aufmerksamkeitsgrad schwanke, aber eben auf beinahe groteske Weise. Philosophie z.B. lese ich wie ein Greifvogel. Etwas blättert vor sich hin, zu spät merke ich, daß ich das bin, und plötzlich stoße ich mit einem unhörbaren Schrei auf eine Stelle herunter, die ich gerade erblickt habe, reiße sie mir, noch tropfend und blutig und eklig, heraus, verleibe sie mir ein, der Denksaft rinnt mir vom Kinn, das schaut aber gar nicht schön aus, was ich da mache, und dann schaue ich sofort weiter (etwas, das so schnell gegangen ist, soll aber auch bitte wenigstens wiederkommen und dann vielleicht bleiben!), ob ich etwas davon verwenden kann und betoniere es in mein eigenes Schreiben ein, so wie man früher ein lebendiges Wesen in die Fundamente für Gebäude mit eingemauert hat. Damit das Gebäude länger hält, vermute ich. Ich glaube nicht, daß mein Schreiben länger hält, nur weil ich da ein Stück vom Fleisch Heideggers oder Nietzsches eingegraben habe, nicht mal verstohlen, obwohl ich es ja gestohlen habe, und die Germanisten dann such, Hundi! spielen dürfen, was sie nicht sollen, aber trotzdem immer wieder machen. Vielleicht gerade, weil ich ihnen dauernd auf die Finger haue deswegen. Andrerseits lese ich einen Krimi oder etwas andres, das ich zum Vergnügen lese, und schau an: ich gehe mit den Augen nach beinahe jedem Abschnitt unwillkürlich zurück und lese ihn nochmal, ich lese sozusagen (das sollte ich mit den Denkwegen machen, sie immer wieder gehen, dann wäre ich endlich gescheiter, und das wäre auch gescheiter) vor und zurück, bis ich am Schluß alles doppelt gelesen habe, was aber vollkommen überflüssig ist, weil ich meine Lieblingsbücher, ich sage nicht welche, oder soll ich es sagen, nein, ich sage es nicht, keine Intimitäten hier, das würde mich verlegen machen, sogar vor mir selbst, denn ich bin mit mir ja allein, weil ich meine Lieblingsbücher ohnedies immer wieder lese, und dann auch noch immer gleich doppelt. Vielleicht damit dann erst recht nichts halten muß? Doppelt hält zwar besser, aber diese Bücher lese ich möglicherweise, weil nichts halten muß. Während ich vor dem, was ich behalten müßte, eine so große Scheu habe, daß ich mich kaum hinzuschauen traue. Diese Bücher, die ich behalten müßte (oder zumindest sollte), meide ich mit den Blicken, die lese ich sozusagen am Rande, oder nur rasch, einen Lidschlag riskierend, als ob Pfeiler einstürzen würden, erstarrte Pfeiler aus Salz, alle grob meiner Gestalt nachgebildet, die sich, als etwas Riesiges, Dunkles, auf mich herunterstürzen, mich mit mir selbst erschlagen würden, wenn ich zu lange hinschaute und mich dabei als etwas, das es gar nicht gibt, erkennen müßte. Daher darf ich mich auf allzu große Genauigkeit nicht einlassen. Blicke können ja töten, und Lesen kann vernichten. Ich muß es, wie gesagt, ununterbrochen tun, aber sehr vorsichtig, weil es sonst zurückschlägt. Ich weiß, wo ich auf der sicheren Seite (von 3 bis 428 oder so) bin, wo mir beim Lesen nichts passieren kann. Wenn ich zu lange hinschaute, würde mich etwas aufs Auge hauen, das ich dann, als Balken, von einem andren mühsam entfernen lassen müßte. Und der andre ist nie da. Das ist von mir auch ausdrücklich so gewünscht.

 

Alle Rechte zum Text verbleiben bei der Autorin.

Essay#4PS