Januscheks und der Weltfrieden

 

1

Bei Breschnew ist es ganz was anderes, sagte der eine Mann in Grau, – Breschnew handelt im Interesse des Weltfriedens.
Aber –, sagte Januschek. Er befand sich jetzt seit zweieinhalb Stunden in dem sumpfgrünen Raum und hatte, zum Verdruss der Männer in Grau, noch immer nicht begriffen, warum es zwei verschiedene Dinge waren, wenn einerseits die USA Raketen in Westdeutschland stationierten und andererseits die Sowjetunion in der DDR dasselbe tat.
Nichts aber, sagte der andere Mann in Grau, der eine aschblonde Halbglatze trug. – Zum letzten Mal: Gegen Reagan können Sie so viele Briefe schreiben, wie Sie wollen. Das ist klar. Setzen Sie ein gepfeffertes Schreiben auf, wahrscheinlich bringt es die Betriebszeitung und Sie kommen auf die Straße der Besten. Waren Sie lange nicht mehr, wie?
Januschek schwitzte. Er war bereits zum dritten Mal in diesem Raum. Er dachte an Binchen und an Ursel und an die beiden Kerle in Lederjacken, die vor der Tür saßen und ihn, das ahnte er, so schnell nicht würden gehen lassen.
Trotzdem, sagte er. – Es ist nicht richtig. Raketen machen keinen Frieden, auch keine sowjetischen. Darum muss ich auch an Breschnew schreiben.
Vielleicht, weil der Parteivorsitzende der Sowjetunion nicht so schlau ist wie Sie?, höhnte die Halbglatze. – Glauben Sie allen Ernstes, jemand würde Ihre Petition unterschreiben?
Ja, sagte Januschek.
Wer denn?, fragte schnell und schneidend der andere Graue, der minutenlang bewegungslos geblieben war. Januschek fühlte sich an ein dickes, schlammfarbenes Krokodil erinnert.
Haben Sie… Zusicherungen?
Januschek schwieg. Sie hatten ihn für bekloppt erklärt im Betrieb. Dennoch war er sich sicher: Sie würden unterschreiben. Die Sachlage war einfach zu zwingend. Hätte er nur erst die Petition aufgesetzt, würden sie alle kommen und unterschreiben – auch der eine, wegen dem er jetzt hier saß, würde kommen und unterschreiben. Ob es Lachmann gewesen war? Oder die Halbfleisch, diese Schnepfe?
Januschek hatte immer ein ungutes Gefühl gehabt, was die Halbfleisch anging.
Januschek… Sie haben doch Familie.
Die Halbglatze glänzte schweißig. Es war tatsächlich heiß hier drinnen. Sollen sie doch endlich diese grelle Lampe ausmachen, dachte Januschek.
Ich halte mich nicht für klüger als den Parteivorsitzenden Breschnew, sagte er. – Ich nehme nur an, dass er über die Lage in der DDR nicht genügend Bescheid weiß. Er muss ja nicht zwischen Raketen leben. Er muss nicht sein Kind zwischen Sprengkörpern großziehen, die jederzeit in die Luft gehn können.
Darum werde ich die Petition schreiben müssen, sagte Januschek, während seine Hände auf den Oberschenkeln Figuren turnten.
Es hat keinen Zweck, sagte das Krokodil zur Halbglatze. Die Halbglatze nickte, ging zur Tür und instruierte die Kerle in Lederjacken.
Die Lederjacken traten in den sumpfgrünen Raum, ergriffen Januschek links und rechts, führten ihn aus dem Gebäude und drückten ihn in ein Auto.
Die Fahrt ging nicht weit. Als sie Januschek aus dem Wartburg holten, sah er vor sich die Tore der psychiatrischen Anstalt, von der im Ort alle wussten, und begriff es nicht.
Die werden mich doch nicht in die Klapsmühle…, dachte er. Dann schloss sich die Tür hinter Josef Januschek.

 

2

Mach hin, sagte Ursel Januschek zu ihrer Tochter Binchen, die einen langen Zweig aufgehoben hatte und damit ratternd die Zäune entlangfuhr. Es war ein windiger Herbst, und eine Menge braunes Laub wirbelte durch die Straßen. Zwar war Binchens Schulweg nicht lang, doch Ursel konnte sich nicht dazu entschließen, sie alleine gehen zu lassen, auch wenn ihr eigener Weg zur Arbeit sich auf diese Weise fast verdoppelte. Auf Binchen passte sie gut auf. Binchen sollte nicht wissen, was alle wussten: dass ihr Vater in der Klapse saß. Nervenzusammenbruch, hatte der Befund gelautet, den man Ursel mit einigen dürren Worten überreicht hatte. – Josef und ein Nervenzusammenbruch, ha!, dachte Ursel.
Das hatte man nun davon, in einem kleinen Ort zu leben, der nichts zu bieten hatte außer der Klapsmühle und der Handcremefabrik. Man hätte drüber lachen müssen, fand Ursel, wenn man nicht schon immer hier gewesen wäre. Josef bei den Bekloppten!
Sie hatte vage von einem Besuchsrecht gehört – sogar einklagbar sollte es sein –, fürchtete sich aber vor der Heilanstalt: fürchtete die kahlen Flure ihrer Alpträume und Josefs Gesicht, das gewiss ganz fremd und verändert war. Es wäre schon Binchens wegen nicht gegangen.
Binchen: Für Weihnachten hatte sie ihr neue Rollschuhe in Aussicht gestellt.
Sollen sie ihn man dabehalten, dachte Ursel plötzlich und erschrak über den Gedanken. Sie rückte Binchen die Mütze zurecht und hielt ihren Mantelkragen zusammen, als sie die Hauptstraße überquerten.

 

3

Macht hin mit dem Frühstück, sagte Ursel zu ihrem Mann und zu Sabine, vormals Binchen. Letztere, lang und vierzehnjährig, aß gehorsam ihr Brot in sich hinein und ging dann ihre Schulsachen holen. Ein gutes Kind, dachte Ursel zufrieden. Fast nur Einser und im Betragen vorbildlich, trotz der schlimmen Familiengeschichte. Freilich, sie würde nicht studieren dürfen.
Josef war nicht so schnell wie das Mädchen. Er drehte die Brotscheibe in der Hand, ab und zu hielt er sie von sich weg und betrachtete sie von allen Seiten – betrachtete, wie an der Unterseite die Margarine aus den Löchern quoll, und trank dazu seine Tasse leer.
Dann sagte er: Ich geh mal, und sah Ursel an, die gleichfalls auf dem Sprung war.
Ist gut, sagte sie und sah auf seine schweren Hände, die rechts und links an ihm hinabhingen. Er war so schutzlos jetzt, mehr ihr Kind als Sabine. Nichts war übrig von dem alten, verrückten Streithammel, der eben, weil er Recht hatte, seiner Familie nur Schwierigkeiten einbrachte.
Er nahm den Straßenbesen, der neben der Wohnungstür im Korridor lehnte, und stieg die Treppen hinab, mit ganz gleichmäßigen Schritten.
Es war ein heller, fast leuchtend weißer Sommermorgen. Sie stand noch in der Küche, schob die Gardine ein Stückchen beiseite und sah ihm hinterher, wie er langsam die Straße hinabging.
Und ich, dachte Ursel.

 

4

Bine Januschek ging die Hauptstraße hinunter zur Schule. Wie gewöhnlich war es windig in diesem lückenlos bebauten Teil der Straße, doch Bines Zopf hing ihr glatt und fest gebunden in den Nacken; wie gewöhnlich ging sie eilig und ohne sich umzusehen. Daher musste Kerstin – Kerstin Kraska aus ihrer Klasse – rufend und wild gestikulierend auf sich aufmerksam machen, ehe Bine stehen blieb. Sie wandte sich um, erstaunt, dass Kerstin sich auf einmal mit ihr abmühte.
Tag, Sabine!, rief Kerstin. Ihr Dekolleté hob sich im raschen Atmen, und Bine, die Kerstin zwar nicht leiden konnte, beneidete sie doch um ihre weiblichen Formen, die ihr viel Erfolg bei den Jungen einbrachten. Seit sie in die Neunte gekommen waren, und das war erst anderthalb Monate her, ging Kerstin schon mit dem dritten. Wie gut sie in dem blauen Sommerkleid aussah; sicherlich hatte ihre Mutter es genäht. Frau Kraska war Schneiderin, auch Bines Mutter war häufig bei ihr. Bine hätte nicht zu sagen gewusst, warum ihre eigenen Sachen so viel weniger schön und raffiniert aussahen als Kerstins.
Tag, sagte sie, – was gibt’s?
Kerstin lächelte, strich sich eine Strähne aus dem Mundwinkel und sagte etwas leiser: Du wohnst in einem Haus mit Thomas Unger, nicht wahr?
Ja, sagte Bine.
Kannst du ihm das hier geben? Kerstin reichte ihr einen Zettel. – Es ist, nun ja, ein Liebesbrief.
Ja, sagte Bine und verschmolz mit der Fassade des Hauses, an dem sie gerade vorübergingen.
Sie wunderte sich, wie Kerstin so etwas einfach aussprechen konnte. Ein Liebesbrief. Ein Liebesbrief an Thomas, den schönen, schwarzhaarigen Thomas, der über ihnen wohnte und schon studierte, Volkswirtschaft, glaubte Bine; und in der Stadt natürlich. Sie sah ihn jetzt so selten.
Er ist nur an den Wochenenden daheim, sagte sie zu Kerstin.
Ach ja?, sagte Kerstin. Wie schade. Steck es trotzdem in den Briefkasten, Sabine, ja?
Ja, sagte Bine.
Weißt du, sagte Kerstin träumerisch, – ich glaube, ich habe noch nie einen so wundervollen Jungen getroffen.
Kerstin liebte also Thomas. War sie nicht mehr mit Jörg aus der Oberstufe zusammen? In Bine war es leer geworden. Sie spürte das Straßenpflaster unter ihren Füßen nicht mehr; der Wind rauschte durch sie hindurch, ebenmäßig wie die wenigen Minuten, die ihnen noch bis zum Stundenanfang blieben; sie wunderte sich fast, dass ihre Beine automatisch weitergingen. Für sie würde es keinen Thomas geben und auch keinen anderen Jungen; lieber war sie unsichtbar.
Kerstin, die nichts bemerkt hatte, hängte sich bei Bine ein und kaute an ihrer Unterlippe – wahrscheinlich, dachte Bine dumpf, hat sie keine Ahnung, worüber sie mit mir noch reden soll.
Schließlich fragte Kerstin, es klang etwas verlegen: Und du, Bine…? Ich meine, wen magst du?
Bine schwieg. Kannte Kerstin, oberflächlich, wie sie war, gar keine anderen Themen? Sie dachte über diese Kerstin nach, deren Körper unter dem blauen Kleid sich warm und fest anfühlte und nach Maiglöckchenparfüm roch und ein wenig nach Schweiß.
Kerstin hatte Bine gesagt.
Da sie keine Antwort erhielt, redete Kerstin weiter von Thomas. Bines Hand in der Tasche ihrer Strickjacke spielte mit Kerstins Zettel, zerknüllte ihn halb; sie versuchte, nicht zuzuhören.
Plötzlich unterbrach sich Kerstin: War das da drüben nicht dein Vater?
Bine erstarrte. Sie drängte sich dichter an Kerstin und sah geradeaus – immer geradeaus, bis ans Ende der Hauptstraße, wo die Garagen und dahinter die Felder begannen.
Nein, sagte Bine, – ich glaube, das war er nicht.
Dann waren sie an der Schule angekommen und Kerstin ließ Bines Arm frei.
Danke – vielen Dank!, sagte sie und lächelte Bine an, der so viel Lächeln bald zu viel wurde.
Ist schon gut, sagte sie.

 

5

Januschek hatte, als er seine Tochter auf der anderen Straßenseite erkannte, den Besen sinken lassen und gewinkt. Sie hatte ihn nicht bemerkt, schade.
Er leerte das Kehrblech in den Ascheeimer, vorsichtig, dass der Wind nicht Gelegenheit bekäme, das Häufchen Staub und Schmutz wieder aufzurühren. Der Nordwind, der in diesem Viertel unaufhörlich blies, wirbelte eine Menge Dreck durch die Straßen; dagegen mit einem Besen anzukommen, das wusste Januschek, war im Grunde aussichtslos. Aber er tat seine Pflicht, wie jeden Tag, und danach würde er nach Hause gehen und sie könnten ihn alle gerne haben.
Januschek wechselte die Straßenseite. Komisch, dass er heute schneller gewesen war als Binchen, sonst eine straffe Fußgängerin. Wenn sie zusammen spazieren gingen, die ganze Familie, lief Binchen immer voraus. – Und da ging sie nun, zusammen mit Kerstin Kraska, und bemerkte ihn nicht. Januschek kam es vor, als hätte er immer ein ungutes Gefühl gehabt, was Kerstin Kraska anging. Die Mutter zumindest war sehr schwatzhaft; wahrscheinlich spitzelte sie. Alle Frauen im Ort rannten doch zu ihr und quasselten sich die Seele aus dem Leib.
Während er so über die Kraskas nachdachte, bückte er sich wie von selbst und kam mit einem Stück Papier wieder hoch: einem zusammengefalteten, zerknüllten Zettel, der, das verriet der Namenszug auf der Außenseite, an einen Thomas gerichtet war. Januschek, der das Briefgeheimnis achtete – und zwar strenger denn je –, entfaltete ihn nicht. Er zerriss ihn dreimal und kehrte die Schnipsel auf sein Schmutzhäufchen.
Ob seine Tochter den Brief geschrieben und verloren hatte? Er würde Binchen erklären müssen, dass sie sich in Acht zu nehmen hätte; aber Binchen hörte nicht mehr sehr gut zu. Sie bummelte vor sich hin mit ihrer Freundin und stellte sich das Leben entschieden zu einfach vor. Binchen hatte keine Ahnung von Lederjacken und Halbglatzen, von ellenlangen Protokollen und erzwungenen Unterschriften, Lederriemen, Spritzen, dem ganzen Programm. Gottseidank hatte sie keine Ahnung. Binchen sollte zur Schule gehen und lernen und immer richtige Antworten geben. Sie sollte es einmal besser haben als Ursel und er.
Januschek dachte an das Mittagessen, das Ursel für ihn vorgekocht hatte: verlorene Eier; sie hatte ihn extra gebeten, die Senfsoße nicht anbrennen zu lassen, sonst würde sie wieder ewig Töpfe schrubben müssen. – Und dazu die Witze- und Rätselseite, oh ja. Die Rätselseite war das Einzige, was er noch in der Zeitung las.
Januschek schniefte, der Dreck reizte seine Lungen und seine Nase. Der Schnee im Winter war ihm lieber; wenn alles so weiß und weit und friedlich lag, fand er es beinah schade, das olle Pflaster wieder freizulegen. Es gab ja, dachte er, fast nichts Schöneres als die Totenstille eines verschneiten Morgens, wenn nichts zu hören war als das Knirschen des Schnees. Schnee schippte Januschek sehr langsam, er machte erst hin, wenn ihm die Kälte in die Knie gekrochen war, die seit der schlimmen Zeit nicht mehr sehr belastbar waren.
Aber jetzt war Sommer; und Januschek war am Ende der Hauptstraße angekommen. Zum letzten Mal leerte er das Kehrblech in den Ascheeimer und trat den Heimweg an: in der Rechten den Besen und links den bis obenhin gefüllten Eimer.

Prosa#4PS