Über biografische Wundmale, Heldinnen und das Schreiben

 

Liebe Anna,

ich habe zugesagt zu diesem Projekt, zu einem Versuch des gemeinsamen Schreibens, zu einem Erforschen der Möglichkeiten von Text. Ich habe mir eine Kanne Tee gekocht und sitze in der Küche, das Radio läuft. Eine gute Arbeitsatmosphäre schaffen. Den Kopf frei kriegen vom Alltag, den Gedanken an den Lohnjob, der Angst, es doch nicht zu schaffen, nicht gut genug zu sein, wieder nicht wahrgenommen zu werden. Text als Werkzeug einer Bestandsaufnahme. Das schätze ich so an Deiner Art des Schreibens: Dass Du erst mal schaust, was da ist. Im Radio läuft ein Beitrag anlässlich des Todestages von John Ford. Der Regisseur hat einmal gesagt: „Ich habe keine Ambitionen. Ich mache einfach weiter Filme. Gute, schlechte, unterschiedliche.“Gefällt mir als Bild, dieses stetige Vorangehen. Und Scheitern zulassen. Du und ich haben auch oft über meine Angst vor dem Text gesprochen, von diesem selbstauferlegten Anspruch, gleich ein Manifest zu verfassen, in den einen Text alles hineinzupacken, gleich das große Ganze zu produzieren. Dabei schätze ich vor allem Autor*innen sehr, die genau das nicht können oder wollen, bei denen jeder Text um die Ränder kreist, um die Löcher der Realität, um die Grenzen der Sprache und des Beschreibbaren. Um Ausnahmezustände. Ich befinde mich in einem Ausnahmezustand. Immer wieder tauchen Bilder und Objekte aus der Kindheit auf, immer wieder ziehen mich diese Erinnerungen in die Depression, immer wieder verhindern die ersten zwanzig Jahre meines Lebens ein erträgliches Leben heute. Aufgewachsen in einem Haushalt ohne mütterliche Wärme, ohne selbstverständliche Liebe, ohne spontane körperliche Berührungen, alles nur der Funktionalität, Sauberkeit und Kontrollierbarkeit untergeordnet. Vielleicht deswegen auch dieses irre Fernweh, diese Sehnsucht danach, weit weg reisen zu können. In Objekten verdichtete sich für mich vieles von dem, was es in der Realität nicht gab: Zwei kleine quadratische Stücke Papier, eines gelb, das andere orange, brachen meine kindliche Weltsicht auf. Ich befinde mich in einem dunklen Innenraum, ein Kirchenschiff, die angenehme Dunkelheit des Raums wird von wenigen einfallenden Lichtstrahlen durchbrochen. Ergriffenheit angesichts der Dimensionen, Glücksgefühle – durch die Sonne strukturiert. Eine in der Kirche anwesende Frau, ebenfalls Besucherin, öffnet ihre Handtasche und holt nun jene zwei Papiere heraus. Sie faltet zweimal einen Kranich als Geschenk für meine Schwester und mich. Zwei Origami-Kraniche als Ahnung vom Draußen, von einer anderen Welt. Im Inneren des Körpers ist alles zusammengefaltet, abgeschirmt von allem noch Unbekannten und allen ahnbaren Möglichkeiten, weit entfernt von Entfaltungen. Die Fläche des Papiers als Konzentrat. Diese Begegnung mit einer japanischen Touristin, unser kurzes Aufeinandertreffen in dieser Kirche in Genf vor mehr als dreißig Jahren fällt mir beim Schreiben wieder ein. Die Unmöglichkeit der Kommunikation durch eine fehlende gemeinsame Sprache wurde durch die Kraniche überwunden. Trotz der Freude über den Papiervogel überkam mich damals eine Traurigkeit durch die Ahnung, dass wir uns nie mehr wiedersehen würden. Ich stelle mir vor, Du würdest jetzt hier sitzen und mit mir Tee trinken. Vielleicht würdest Du sagen, dass die Schönheit des Daseins gerade in solchen Szenen liegt. Und dass diese Frau möglicherweise ja noch lebt, irgendwo in Japan. Und somit im gleichen Universum.

Deine Frauke

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Liebe Frauke,

ach, toll! Vielen Dank für Deine Zeilen und offenen Gedanken. Ich muss gleich an unsere geteilten Tee-Momente denken, als du in Japan warst, Tee getrunken und mir geschrieben hast. Das fühlte sich trotz der Entfernung an, als würden wir uns gegenübersitzen und uns angeregt über unsere Lektüren, Beobachtungen und Zweifel austauschen. Ich weiß gar nicht so genau wo ich anfangen soll, aber vielleicht beginne ich damit, dass ich in der PS ein Gespräch zwischen Kaśka Bryla, Muriel González und Selim Özdoğan gelesen habe, das spannend war, weil es persönlich und grundsätzlich zugleich war. Allerdings war es keine E-Mail-Kommunikation wie unsere, sondern ein transkribiertes Gespräch, in dem auch Pausen und Lacher vermerkt sind. Wohin wird unser Austausch gehen? Wird er sich unterscheiden von unseren Gesprächen, wenn er stärker notizhaft wird, so wie ich Deinen Anfang lese? Wenn ich daran denke, worum unsere Gespräche oft kreisen und was uns so bewegt, knüpft das ziemlich gut an das PS-Gespräch an, denn auch wir reden über die machtvollen und unsolidarischen Strukturen des Kunstfeldes und unsere Gegenentwürfe dazu, über die Hemmungen und Ängste und über unsere Liebe für die Literatur und Literatinnen wie Connie Palmen und Annie Ernaux, die eine eigene Sprache und Schrift entwickelt haben, die Emotion und Verletzlichkeit Raum gibt.

Was ich an Deinem Aufschlag besonders mochte – und worauf ich sofort antworten wollte – war die Schilderung der Faltung des Origami-Kranichs, die ein „Inneres des Körpers“ schafft, „abgeschirmt von allem noch Unbekannten und allen ahnbaren Möglichkeiten, weit entfernt von Entfaltungen“. Ich hab da gleich an meine Faltensammlung denken müssen und an die Lektüre von Texten von Foucault und Deleuze zum Thema Falte. Für mich ist die Falte ein geschützter Ort, ein potentieller Ort, ein Konzentrat, wie du schreibst. Die PS scheint eine solche Faltung, ein solcher Ort zu sein, an dem sich Präzision, Leidenschaft, Freundschaft, Wertschätzung trifft und eine Haltung entsteht, die wir sehen und spüren können, während anderen der Blick dafür zu fehlen scheint, wie man aus dem Beitrag von Carolin Krahl, „An Wünschen rütteln“, herauslesen kann, wo sie von Angriffen gegen die PS berichtet. Woran liegt das? Dass man so unterschiedlich sieht?

Apropos Sehen: Am Ende spekulierst Du, was ich zu Deinem Erinnerungsbild der Frau in der Kirche sagen würde, und es stimmt, dass ich wahrscheinlich versucht hätte, etwas Positives, Tröstendes darin zu sehen, dass diese Begegnung stattgefunden und sich so lange eingeprägt hat. Ich bin tendenziell positiv, will es sein, was daran liegt, dass ich zu oft beobachte, wie wir uns klein machen, statt uns zu unterstützen und gegenseitig anerkennend auf die Schultern zu klopfen.

Gerade habe ich das (männliche) Lektorat eines Textes von mir über eine Künstlerin überarbeitet und war mal wieder hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, dass da jemand hilfreiche Vorschläge und Korrekturen macht und dem Unbehagen, dass da jemand in meinen Text eingreift und ihm eine andere Logik und Sprache aufpfropft. Ich versuche, wenn ich Texte lektoriere, unterstützend zu sein und mich in den Rhythmus und die Logik des Textes einzulesen und zu denken. Es sollte nicht darum gehen, den Text professionell zu schleifen oder ihm noch mal einen eigenen Stempel aufzudrücken. Als Lektor*in brauchst du Demut, Einlassungsbereitschaft auf jeden neuen Text – und Argumentationssicherheit. Das ist etwas anderes als Rechthaberei und Rechtschreibsicherheit. Ich komme darauf jetzt auch zu sprechen, weil ich so mochte, wie die PSler*innen über ihr Verständnis vom Lektorieren gesprochen haben. Kann man das als Haltung bezeichnen? Ich stehe total auf Haltung und merke gleichzeitig wie sie sich allen wissenschaftlichen Einfangversuchen widersetzt. Dennoch treibt mich die Frage um, wie man sie als wissenschaftliche Methodik fruchtbar machen kann. So long. Es winkt durch die Nachbarschaft,

Anna-Lena

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Liebe Anna,

ich sitze im Zug und denke an Dich, unsere Verknüpfungen und unseren Dialog, den wir nun in dieser Form weiterführen, als kleines, experimentelles Insert in unserem sonstigen Austausch. Auf längeren Reisen kann ich gut nachdenken, im Zug ebenso wie im Flugzeug. Besonders beim Fliegen über lange Distanzen erlebe ich diesen besonderen Zustand, dieses Aus-der-Welt-gehoben-sein, jenseits aller Zeitzonen verortet. Diesen absurden Moment hoch oben in der Atmosphäre empfinde ich oft als tröstlich. Nochmal auf eine andere Weise dem Leben enthoben sein, als wenn ich in Japan bin: Sobald ich dort ankomme, habe ich das Gefühl, die Tür zu einer Parallelwelt geöffnet zu haben, durch die ich in ein anderes, mein japanisches Leben trete. Auch wenn mein letzter Aufenthalt dort von Unsicherheit und Verzweiflung geprägt war, weil der Berliner Alltag nicht weggehen wollte, weil mir seltsame Gedanken des Kleinmachens durch den Kopf gingen und ich nur schwer dem selbstauferlegtem Druck entkommen konnte, für eine nächste größere Ausstellung unbedingt etwas Besonderes zu schaffen. Da ist sie wieder, die Angst vor Bewertung, die Angst, durch das Raster der Sichtbarkeit zu fallen, nicht hineinzupassen. All das nagt am künstlerischen Selbstverständnis – und wenn Du von Haltung sprichst, so muss ich sofort auch von meiner Abneigung gegen viele Teile dieses Kunstsystems sprechen. I would prefer not to als Haltung gegen zu viel Anbiederung, Konkurrenzdruck und Scheinheiligkeit. Bin ich dann allerdings bereit, den Preis dafür zu zahlen? Eben jene mögliche Nicht-Sichtbarkeit? Vielleicht ist das ähnlich wie bei Dir, wenn der lektorierte Text zurückkommt: einerseits eine wohlmeinende Hilfestellung, andererseits der Versuch der Anpassung, der Abschleifung, um doch möglichst gut hineinzupassen, anschlussfähig zu sein. Wäre Haltung hier, den Text rau und kantig zu lassen, aneckend? Ich stelle mir vor, wie das in wissenschaftlichen Texten aussehen könnte, wie Haltung (selbstverständlicher) Teil der wissenschaftlichen Methodik sein könnte. Vermutlich eher durch die Person, denn durch die Texte, die im Idealfall sachliche und unpersönliche Beobachtungen in Textform sind. Die spannendere Frage für mich lautet daher: Wie kann ich als Künstler*in, Autor*in, Wissenschaftler*in leben und zugleich meine Haltung deutlich machen?

Ich musste beim Lesen Deines Textes an einen besonderen Moment in Japan denken: Während meines Aufenthaltes im vergangenen Dezember war es oft kalt, nasskalt – und in Tokyo gibt es in den meisten Wohnungen keine richtige Heizung. Ich bin daher häufig in das öffentliche Badehaus gegangen, das ein paar Straßen entfernt war. In dem Viertel, in dem ich wohnte, gab es noch einige dieser alten Badehäuser, sie stammen aus Zeiten, in denen viele Häuser wegen Brandgefahr kein eigenes Bad hatten. So ein Sentō öffnet gegen 16 Uhr und hat meist bis Mitternacht auf. Nach Geschlechtern getrennt, wäscht man sich erst gründlich, um anschließend in den heißen Becken zu entspannen. In meinem Badehaus gab es drei verschiedene Heilwasserbecken und sogar ein weiteres unter freiem Himmel. Meist waren nur wenige ältere Frauen mit mir im Badehaus, und ich war die einzige Ausländerin. Die anderen Frauen waren sicher nicht nur wegen der Entspannung im Sentō, sondern eben auch, weil sie zu Hause kein Bad hatten. Die Stimmung bei diesen Besuchen empfand ich als sehr besonders: geprägt von einer wunderbaren weiblichen Solidarität, einem komplizenhaften Selbstverständnis und dem gemeinsamen Genuss des heißen Bades, dem Alltag abgetrotzt. Diese Momente im Sentō fielen mir ein, als Du Carolin Krahls Text erwähnt hast. Wird mit den Angriffen dieser vermeintlich weiblichen Art des Schreibens – und allein die Benutzung des Adjektivs „weiblich“ diskreditiert hier das Schreiben – sozusagen der implizite Vorwurf der „gefühligen Literatur“ gemacht? Sofort muss ich an Bernhard denken, einen gemeinsamen und eher flüchtigen Bekannten. Wir näherten uns an, mochten unsere jeweilige Art, es entwickelte sich eine Freundschaft. Als ich ihn zusammen mit Dir für einen Abend bei mir eingeladen hatte, hat er mit genau diesem Impetus das Treffen abgesagt: Er hätte keine Lust auf so eine Frauenrunde, da wäre er jetzt nicht in der Stimmung für. Also eigentlich auch: Auf euren lächerlichen Gefühlsaustausch habe ich keine Lust, bei mir geht es um ganz andere Themen, alles viel existenzieller, was brauche ich da so einen Kaffeekranz. Ich wurde total wütend. Diese Anmaßung und gleichzeitige Herabwürdigung, ohne uns überhaupt gut zu kennen. Seine Angst vor dem Zulassen von Nähe, seine Angst davor, erkannt zu werden, seine Feigheit. Und zum Thema existentielle Krisen konnte ich bei ihm eigentlich nur lachen.

„Ich fühlte mich, nein, ich war glücklich … Wieso zögere ich, Ihnen das zu sagen? Ich will nicht, dass Sie mich für sentimental halten, ich möchte einen guten Eindruck machen.“1

Deine Frauke

P. S.: Zu der Falte von Deleuze/Guattari nur eine kurze Anmerkung: Ich finde die von den beiden beschriebene Art des rhizomatischen Denkens so wichtig und gut – in genau dieser Art der assoziativen Verknüpfung sehe ich unser Projekt!

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Liebe Frauke,

als ich gestern nach Hause kam vom Sitten meines Neffen und noch Deinen Text las, war ich wieder ganz erfüllt von der Lektüre und dem Wunsch, gleich zu antworten. Aber ich bin dann ins Bett, habe ein paar Seiten in Mori Ogais Vita Sexualis gelesen, das Du mir ausgeliehen hast, und hab um halb elf die Augen zu gemacht. Heute Morgen fühle ich mich langsam – weil ich um kurz nach neun noch im Bett liege und die Zeit mit Lektüre und nicht mit Arbeit verbringe. Gehört die Lektüre zur Arbeit oder nicht? Bin ich wirklich langsam oder nehme ich mir jene Zeit, um mich zu sortieren und Raum zu schaffen für die zu erledigenden Dinge und sorge auf diese Weise für mich? Ich schreibe das, weil sich selber als langsam zu bezeichnen einer der Kleinmach-Mechanismen ist, die ich so oft bei uns beobachte – und die wir selber verändern können, indem wir aufhören, uns so zu beschreiben. Ich habe gestutzt als Du von Bernhard erzählt hast, weil ich dachte: Warum lässt Du Dich von dieser unsouveränen Person so angehen? Die vielleicht nur deshalb nicht kommen wollte, weil sie sich in unserer Trautheit deplatziert gefühlt hätte. Seine Worte formuliert er aus Unsicherheit heraus, was für mich der Grund ist, weshalb sie so aggressiv klingen. Und Du nimmst es Dir so zu Herzen! Davor will ich Dich natürlich gleich bewahren! Genauso wie vor den Panikattacken, von denen Du bei unserer letzten Begegnung erzählt hast. Als Du schriebst, Dich würde unser Austausch an Deleuze/Guattari erinnern, kribbelte es kurz vor Freude, denn das ist ein sehr schönes Kompliment. Gleich darauf dachte ich: Ist das nicht total vermessen, das zu behaupten? Und dann: Gibt es nicht irgendeine Denkerin, die als Vorbild dient und mit der ich verglichen werden möchte, statt diese beiden Herren, denen schon genug Leute huldigen und die sich zur Genüge in die Annalen eingeschrieben haben? Vielleicht magst Du Deinen Gedanken ja noch ein wenig weiterspinnen, und dann schauen wir gemeinsam, wer uns noch so als Gewährsfrau einfällt. Ich fang jetzt mal an zu arbeiten :-)

Viele Grüße, Anna

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Liebe Anna,

ich muss doch noch einmal auf die Sache mit Bernhard zurückkommen: Es geht mir nicht darum, dass er damals nicht kam und mich das erstmal verletzt hatte, sondern um das große, grundsätzlichere (und strukturelle) Problem der Entwertung, Abwertung von mit Weiblichkeit assoziierten Dingen; wenn eine Künstlerin sich nicht traut, die Widrigkeiten des Lebens als Mutter UND Künstlerin zu thematisieren, aus Angst vor den Nachteilen, der Herabsetzung einer möglichen künstlerischen Karriere durch das andere Geschlecht, eben das Nicht-ernst-genommen-werden als Künstlerin, die auch noch Familie hat. Und das schreibe ich als Frau, die nie Kinder wollte, die sich ganz langsam über Jahre aus dem körperlichen Ekel vor Reproduktion herausgearbeitet hat, und die nie bereit war, die eigene kostbare Lebenszeit auch noch mit möglichem Nachwuchs zu teilen! Sofort sind wir mittendrin in der Geschichte, im Feminismus – und natürlich auch bei Simone de Beauvoir. An diese Grande Dame musste ich eben beim Schreiben denken, an ihre Theorie, dass gerade der „Glaube an die Natur der Frau“ die Frauen in die Irre führe und sie dazu verleite, sich abhängig zu machen. Sie hat damit genau jene patriarchale Doppelmoral kritisiert, die bis heute nicht verschwunden ist. Ich habe Das andere Geschlecht mit sechzehn gelesen, damals in meinem Muttergefängnis, als Lesen die innere Emigration und Freiheit bedeutete. Und ich erinnere die Wucht dieses Buches, die ich fast körperlich zu spüren glaubte und die Konsequenzen, die ich für mein weiteres Leben daraus zog, allein im Jugendzimmer sitzend, hinter der geschlossenen Tür. Meine Zimmertür, typisches Holzfurnier, braun, kein Sichtfenster. Der Schlüssel wurde irgendwo aufgehoben, den brauchst Du ja nicht. Für mich sind Türen kein positiv konnotiertes Bild. Sie grenzen aus. Sie grenzen ab. Ich bin nicht sichtbar. Ich werde verleugnet. Sie ist nicht da. Oder aber gar nicht erst rangehen an die Gegensprechanlage, diesen vorgeschalteten Außenposten der Kontrolle. Kurze Beschreibung des Vorgangs: Es klingelt. Ich erschrecke mich. (Später dann, in der ersten eigenen Umgebung, breche ich oft in Tränen aus, sobald es klingelt.) Ich sehe meine Mutter an. Ich erwarte ihre Reaktion. Entweder bin ich also nicht da, oder sie beachtet mich nicht und das Klingeln bleibt ohne Resonanz. Wir tun einfach so, als sei niemand da. Ich stehe daneben, ungläubig ob des gerade Erlebten, versuche, irgendeine Logik darin zu erkennen, das System zu kapieren. Es gibt kein System, es gibt keine Logik. Es herrscht pure Willkür. So ist alles ganz einfach. Drinnen ist es sauber. Und draußen der Dreck der Welt. Man kann auch den Türgriff auf der dem Innenraum zugewandten Türseite mittels leerer Toilettenpapierrolle zu einem sauberen Teil der Welt machen. Was für eine Ahnung von Leben konnte es dort geben? Das sechzehnjährige Ich wusste schon alles und doch nichts, ich erwartete keine Besserung und hatte nur geringe Hoffnungen, dass sich mit dem Auszug etwas (alles!) ändern könnte. Ich lache plötzlich auf beim Schreiben, es ist ein ständiges Changieren zwischen Wut, Traurigkeit und einer großen Freude, Gelöstheit, in die sich das Schmunzeln mischt über den schönen Zufall eines anderen Buches: 1975 erschien Das Lachen der Medusa von Hélène Cixous, und leider habe ich dieses Buch nicht als Sechzehnjährige lesen können, ich habe von seiner Existenz erst viel später erfahren, und es dauerte nochmals, bis ich es endlich lesen konnte und weitere Jahre, bis ich es verstand. Beim Antworten auf Deine Gedanken, beim An-Dich-denken (ich stelle mir noch immer vor, wir würden zusammen Tee trinken, während ich Dir schreibe, sozusagen der Text als transkribierter Austausch) freue ich mich nun, weil dieses Buch genauso alt ist wie ich, was ich schlicht großartig finde und auch tieftraurig. Und weil dieses Buch alles beinhaltet. Alle Antworten und somit auch die Antwort auf Deine Frage nach einer Gewährsfrau, einem weiblichen Vorbild. Ich nenne trotzdem das rhizomatische Denken der alten Herren Deleuze und Guattari ein Vorbild, weil sie durch ihre Art des verknüpfenden Austauschs und gemeinsamen Schreibens etwas bis dato so nicht Dagewesenes geschaffen haben, aber die unbändige Radikalität von Frau Cixous steht gleichwertig daneben.

Ich lese das vorhin Geschriebene durch und stelle fest, dass ich Dir fast ein Konzentrat schicken werde, die Textform spiegelt dann doch mein momentanes Leben wieder, mein Gefühl, fast zu ersticken am Existenzkampf und der Lohnarbeit und das alles nur zu machen, um mir mein vermeintlich freies Leben als Künstlerin zu ermöglichen. Diese Aufgekratztheit, weil einfach keine Zeit und keine Ruhe mehr bleibt für das Eigentliche. Deswegen: ein Lob auf die Langsamkeit! Ich hätte gerade mehr als Lust darauf, diesen ganzen kapitalistischen Zwängen zu entkommen und einfach im Bett zu bleiben. Nicht aus depressivem Verstecken-wollen, sondern aus der aktiven Verweigerung dieses ganzen Funktionieren-müssens. Ich werde mich jetzt für zwei Stunden lesend aufs Sofa legen.

Deine Frauke

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Liebe Frauke,

draußen tobt der Orkan „Sabine“, schafft Unruhe und menschenleere Straßen. Dazu passt, dass AKK ihren Rücktritt bekanntgegeben hat. Als ich das gehört habe, war ich erschüttert, weil ich diesen Schritt als ein Aufgeben gegenüber ihren internen Kritikern und Partei-Konkurrenzlern sehe. Das finde ich krass, dass sie jetzt aufgibt, und auch ein bisschen mutig, nicht so hart werden zu wollen und zu glauben, man müsse diese ganzen Anfeindungen und die Kritik an ihrer angeblichen Führungsschwäche aushalten. Auch wenn ich nicht ihre Politik teile, finde ich es super wichtig weibliche Rollen-Vorbilder zu haben, von denen du ja auch einige genannt hast – wenngleich es Schriftstellerinnen sind, die du nennst. Ich würde noch einige ergänzen: Audre Lorde, Marie Luise Kaschnitz, Zofia Ban, Gertrude Stein, Inger Christensen – Autorinnen, die alle auch in und mit der Form gearbeitet und eine „neue“ Art des Schreibens etabliert haben. Du kommst noch mal auf Bernhard zurück und auf Deine Wut über die Abwertung und Ignoranz, die Du in dieser Geste siehst, was mich dazu anregt, meinen Punkt vom letzten Mal zu stärken: nicht so viel Energie darauf zu verschwenden sich aufzuregen, sondern dahin zu schauen, wo etwas gelingt. Das mochte ich am Abend im Literaturhaus, als die PSler*innen immer wieder auf diesen Punkt zu sprechen kamen und nach dem Gelingenden gefragt haben. Was da drin steckt, ist der Gedanke, dass wir mit dafür verantwortlich sind, uns zu stützen und das Künstler*innenbild zu verändern. In der letzten PS-Ausgabe kommt Selim Özdoğan auf diesen Punkt zu sprechen, wenn er auf ein bestimmtes Narrativ vom Künstler rekurriert: „Das ist diese leidende Person, die sich in ihrem Alltag überhaupt nicht ausdrücken kann, die bindungsunfähig ist, beziehungsunfähig und nur hier im Bereich der Kunst fähig ist, irgendwas zu leisten. Aber das ist nicht das einzige Kreativitätsnarrativ, das funktioniert.“ Es geht auch anders: „Wenn die Vorstellung ist: Ich trage etwas zur Gemeinschaft bei“ – dann kann sich etwas verändern. „So ist Literatur letzten Endes entstanden, als verbindendes Element.“ Wir machen das ja gerade, schauen auf das Alltägliche, sprechen über unsere Sorgen, stützen uns. Und so verstehe ich auch das Anliegen der PS. Dort ist mir aufgefallen, dass in den kurzen biografischen Informationen oft von der Herausforderung die Rede ist, Kunst/das Schreiben, Jobs und Engagement zu verbinden – was (wie ich glaube) fast allen so geht, nur wird darüber immer noch zu wenig gesprochen. Genauso selten hört man von Eltern, die psychisch krank sind, so wie Deine Mutter, und was das mit den Kindern macht. Umso mutiger von Dir, hier von ihr und den Erfahrungen in Deinem Elternhaus zu berichten!

Herzliche Grüße*, Anna

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Liebe Anna,

ich will gleich antworten, obwohl mir nach einem neunstündigen Arbeitstag zum Mindestlohn gerade eher nach Verstecken zumute ist – auch vor dem schleichenden Gefühl, nichts Besseres zu finden, weil ich eben auch nichts Besseres verdient habe. Meist gelingt es mir, diese Gefühle gut im Griff zu haben und auch die Vorteile dieser Jobs zu sehen, aber wenn ich so körperlich erschöpft auf dem Sofa sitze, muss ich doch ganz schön um Zuneigung zu mir kämpfen. Jetzt komme ich auch erst dazu, alles nachzuholen und nachzulesen, was heute in der Politik passiert ist! Danke für Deinen nochmaligen Hinweis auf diesen Punkt: nicht so viel Energie darauf zu verschwenden sich aufzuregen, sondern dahin zu schauen, wo etwas gelingt. Das finde ich gut, und es klappt auch oft – wenn ich dann aber dieses Zitat von Selim Özdoğan über ein bestimmtes Narrativ vom Künstler lese, werde ich sofort wieder wütend: Mir fallen eben nicht als erstes die guten Momente ein, in denen ein gegenseitiges Stärken und Ermächtigen möglich wird bzw. auch stattfinden kann, sondern all die Augenblicke, in denen Ellenbogen ausgeklappt und unliebsame Konkurrenz ausgeschaltet wird, seltsam heuchlerische Allianzen zwecks Jobvergabe stattfinden und opportunes Verhalten zu Stipendien führen kann (oder führt). Und das alles hat schlichtweg nichts mit guten Arbeiten, Gemeinschaftlichkeit oder Haltung zu tun! Über dieses Thema haben wir schon oft geredet und es beschäftigt mich (auch durch eigene Erfahrungen) nach wie vor. Könnte dieses andere Herangehen, für das die PS auf jeden Fall steht, nicht auch in der Kunstwelt funktionieren? Auf unterster Ebene, auf der Ebene der Projekträume und selbstverwalteten Orte klappt es oft. Aber je mehr es nach oben geht, in Richtung Profession und Professionalisierung (und Geld ins Spiel kommt), wird es düster. Du kennst ja sowieso meine Meinung, dass es in sämtlichen anderen Welten, wie der Literatur, der Musik etc. „besser“ zugeht, als in der Kunst. Vielleicht tummeln sich in der Kunstwelt einfach zu viele Narzissten, zu viele Blender, zu viele von denen, die „nur hier im Bereich der Kunst fähig sind, irgendwas zu leisten“. (Was genau eigentlich?) Deshalb finde ich oft die Literatur so viel besser, näher dran, wahrhafter – und in ihr fand ich auch zum allerersten Mal diese Art von Trost, das Wissen, nicht allein zu sein und ganz sicher auch nicht die Einzige, die ein seltsames Aufwachsen aushalten und überleben muss. So wie ich gerade sicher nicht die Einzige bin, die sich mit irgendwelchen Jobs das vermeintlich selbstbestimmte Künstler*innen-Dasein finanziert. Hier könnte gleich ein neuer Abschnitt zu Klassismus anschließen, und ich freue mich schon sehr auf Deinen Text zu Eigentumsverhältnissen, zu Deinem Alphabet der vermögenden Bekannten, wie ich den noch nicht gelesenen Text für mich benenne. Es sind die unvermeidlichen feinen Unterschiede, die das unsichere Leben als Künstler*in, Autor*in, Musiker*in durch eine Eigentumswohnung oder Atelierfinanzierung erträglicher machen – oder eben nicht. Aber ich wollte noch etwas zur Literatur anmerken, zu dem Punkt, der mich selbst in trauriger oder harter Literatur etwas Tröstendes finden lässt, Worte, die mich wärmen und berühren und mich die nahen Abgründe nicht fürchten lassen. Text hat eine andere und natürlich viel stärkere Direktheit – und ich muss auch nochmal auf den PS-Abend im Literaturhaus zurückkommen und auf die große Freude, als von den PS-Autor*innen auf Aglaja Veteranyi verwiesen wurde. Ich habe sie bzw. ihre Bücher vor gut zwanzig Jahren entdeckt und bin eingetaucht in ihre fremde Lebenswelt, die mir sprachlich so nah war und die ich mir fast wie eine Decke umlegen konnte. Ich habe sämtliche Nachrufe ausgeschnitten und in meine Bücher von ihr gelegt, als sie sich 2002 das Leben nahm. Ich konnte es verstehen und war traurig. Ich konnte es nachvollziehen und fühlte mich getröstet von dem Wissen, dass sie gehen konnte. Ich habe oft in ähnlichen Büchern ein Zuhause gefunden und bei anderen Autor*innen, die freiwillig aus dem Leben gegangen sind. Und wenn wir ab und an auf solche Autor*innen zu sprechen kommen, wenn es um Selbstmord geht, um den selbstgewählten Ausgang, erlebe ich Dich manchmal ablehnend und unwirsch reagierend. Das interessiert mich, und ich bin schon lange neugierig, da mehr von Dir zu erfahren, auch über diese unmittelbare und vielleicht oft unbewusste Ablehnung dieser besonderen Autor*innen, die sich bei Dir wohl auch zum Teil auf Erlebtes zurückführen lässt. In diesem unserem Text-Experiment, im Schutzraum der nicht direkten Kommunikation lässt sich auf andere Art vielleicht freier über solche Gedanken und Themen reden, und ich traue mich, Dich hier einfach auch danach zu fragen. Aglaja Veteranyis Bücher fielen für Dich auch unter diese Kategorie, Du wolltest sie Dir nicht ausleihen. Als ob die Schwere der Autorin sich auf den Inhalt dieser Bücher auswirkt und sie dadurch zu seltsam düsteren Objekten macht, die Du nicht um Dich haben konntest. Vielleicht siehst Du es nur andersherum als ich: Ist das Leben manchmal beschissen und schwer zu ertragen, hilft positiv gestimmte Literatur bei Dir. Und ich fühle mich von den dunklen Seelenverwandten besser aufgefangen. Frau Veteranyi hat übrigens auf einer ihrer Postkarten eine „Gesellschaft für das Gute“ erfunden.

Herzlichst*, Frauke

P.S.: Was unterscheidet für Dich Schriftstellerinnen von Autorinnen?

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Liebe Frauke,

was Du alles nach der Arbeit noch denken und formulieren kannst, wow! Ganz schnell zu Deiner Frage: Es gibt für mich keinen Unterschied zwischen Schriftstellerinnen und Autorinnen, wobei ich mich schwertue mich als Schriftstellerin zu bezeichnen, weil ich keine Romane schreibe, sondern verschiedenste Texte. Zu Deiner anderen großen Frage nach meinem Verhältnis zu Schwermut-Literatur, wie ich sie jetzt mal etwas verallgemeinernd nenne. Wir haben da ja tatsächlich schon öfter drüber diskutiert, ich erinnere mich gut an unsere Gespräche über Mark Fisher. Es hat was mit meinem Vater zu tun, der sich das Leben genommen hat, als ich 16 Jahre alt war. Ich habe da gerade letztens mit Wilma drüber gesprochen, weil wir über das Recht auf einen freiwilligen Tod diskutiert haben: Ich werfe ihm nicht vor, diesen Schritt gegangen zu sein, aber die Vorstellung, in welcher Verzweiflung und Einsamkeit er gewesen sein muss, als er sich zu diesem Schritt entschlossen hat, ist für mich zu schmerzhaft, als dass ich da freiwillig reingehen würde. Texte zu lesen, die diese absolute Ausweglosigkeit in sich tragen, die Schwermut, aber auch die Distanz und Härte sich selber gegenüber, die ich noch von meinem Vater kenne, ertrage ich daher nur schwer und nur in Dosierungen. Du fragst danach, ob es für das Kunstfeld nicht auch mehr solidarische Strukturen geben könnte wie Du sie in der Literatur und der Musik beobachtest. Mein Gefühl ist, dass es diese auch im Kunstfeld gibt (zum Beispiel in unserer kleinen Nachbarschaftsaustauschrunde), dass aber die Dominanz des Kunstmarktes diese solidarischen Strukturen überdeckt und dass die Tatsache, dass du mit Kunst in ganz, ganz seltenen Fällen sehr reich werden kannst, dazu führt, dass Ehrgeizlinge und Karrierestrateg*innen auf engstem Raum mit Politaktivist*innen und Überzeugungstäter*innen wie uns agieren. Ich denke, dass es das in der Literatur und der Musik genauso gibt: Während einige wenige aktiv im Business sind und sich ihren Lebensunterhalt damit verdienen können, arbeiten viele unentgeltlich, weitab vom Kreis derjenigen, die darüber entscheiden, wer sichtbar/ sagbar/ hörbar wird. Die Frage ist, was man für einen Anspruch hat. Will man Karriere oder eine angemessen Lebensgrundlage für den Aufwand den man betreibt? Wir haben da schon oft drüber gesprochen – dass es ein Grundeinkommen für Künstler*innen geben müsste zum Beispiel. Du setzt dich im berufsverband bildender künstler*innen berlin ja ganz aktiv dafür ein, dass sich die Strukturen verändern! Da habe ich sehr viel Respekt vor – und kann gleichzeitig Deinen Frust verstehen, wenn die Zeit für Kunst durch die Lohnarbeit immer zu wenig ist und Du von Deiner Situation genervt bist! Jetzt kommt ein abrupter Sprung, aber sind wir nicht schon längst über die Einreich-Zeichen-Frist drüber? Was machen wir denn nun? Sind wir schon fertig? Wollen wir es wagen, eine Extrawurst zu drehen und den PSler*innen zusätzliche Arbeit machen?

Herzlich*, Anna

* * * *

Liebe Anna,

ja! Wir sind fertig, ich habe den Text eben noch einmal gelesen und finde: Abschicken! Es grüßt Dich, doch etwas aufgeregt ob der Offenheit bezüglich meiner Mutter – und Deines Vaters –, den Depressionen, den Alltagskämpfen und unseren sonstigen Gedanken,

Deine Frauke

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P. S. an die PS: Vielen Dank für Eure ermutigenden Worte und das konstruktive Lektorat!

 

Lektorat: Olivia Golde und Yael Inokai


Frauke Boggasch ist Künstlerin, interessiert sich für japanische Underground-Kultur und hat eine Vorliebe für Geister und Wesen, was sicher auch mit ihrem Aufwachsen bei einer psychisch labilen Mutter zu tun hat. Sie stößt sich immer wieder an den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten des Kunstfeldes (und schreibt darüber zu selten), engagiert sich aber genau deshalb im bbk*berlin, um Haltung zu zeigen und der Absurdität des Kunstsystems die Stirn zu bieten.
Anna-Lena Wenzel ist Autorin, Künstlerin und betreibt das Online-Magazin 99% Urban und den Radiosalon für Alltägliches zusammen mit Julia Bonn. Ihr ist es ein Anliegen, Räume zu öffnen und den Bezug zum Alltag im Blick zu behalten – für sie ist Schreiben über Konkretes immer auch ein politisches Schreiben.
Gemeinsam haben sie einen regen Bücheraustausch und zelebrieren Gespräche über Literatur, die Macken des Kunstsystems und ihre Vulnerabilität bei Tee und Kuchen.

PS