PS#2
| Genie wider Kollektiv

 
 
 
 

EDITORIAL

Als wir im Oktober 2015 die PS1 in den Händen hielten, konnten wir es noch nicht glauben. Ein Jahr Arbeit und Austausch und Diskussionen, das sich, wenn auch nur zum Teil, in einem Buch spiegelt. Viel Zeit zum Staunen ließen wir einander nicht. Bereits am Wochenende der Release-Party besprachen wir mögliche Themen für die PS2. Im Winter einigten wir uns schließlich auf „Genie wider Kollektiv“. Es erschien uns passend, da sich unsere Auseinandersetzung um den deutschsprachigen Literaturbetrieb und die Diskussionen zu „Konkurrenz und Kanon“ stetig in diesem Punkt schnitten. Eine thematische Anknüpfung. Eine Anmerkung zum Literaturbetrieb, mit der wir uns weiter wagen wollen.

Daher die Überlegung, das Thema dieses Jahr auch formal in die PS2 einzubetten. Schnell war klar, dass wir den Leitessay kollektiv schreiben wollten und bald darauf auch, dass wir insgesamt die Texte in PS2 unabhängig von ihren Autor_innen veröffentlichen werden. Dass es also auf den ersten Blick – und oftmals gänzlich unmöglich sein sollte, weder Essays und Interviews, noch Prosa, Drama oder Lyrik, einer Person zuzuordnen. Die Autor_innen waren zu diesem Experiment bereit, die Namen und Viten finden sich nach den Texten gemeinsam aufgelistet.

Wir, die Redaktion von PS, sind ein sich im Prozess bewegendes Kollektiv. Mit jeder Ausgabe, mit jedem Redaktionsjahr wollen wir nicht nur unser Vorgehen anhand der gewonnenen Erkenntnisse verändern, sondern auch PS als Netzwerk für marginalisierte Stimmen. Dieses Jahr arbeiteten wir hart daran, unsere in der ersten Ausgabe ausgerufenen Ansprüche real umzusetzen.

Anders als für die PS1 machten wir für die PS2 eine offene Ausschreibung für den Prosa-Bereich, wobei wir die Auswahlkriterien auf die Lebensumstände der Autor_innen bezogen, nicht auf ihre literarische Erfahrung.

Wir wandten uns an autonome Aktivist_innen im links-politischen, anarchistischen Spektrum, People of Colour, Menschen mit Migrations-hintergrund, Menschen mit Psychiatrieerfahrung, Menschen, die im Knast sitzen/saßen und die politische Grundhaltung der Redaktion teilen, frauen* lesben* trans* & inter* – Personen und Schwule; bisexuelle, pansexuelle, asexuelle Menschen, Menschen am Anfang ihres literarischen Werdegangs, die bereits ihr dreißigstes Lebensjahr überschritten haben, Autor_innen, die aufgrund ihres höheren Alters benachteiligt sind, Menschen, die im Altersheim wohnen und die politische Grundhaltung der Redaktion teilen, Menschen, die aufgrund ihres Klassenhintergrunds im Nachteil sind. Menschen in prekären Lebens-verhältnissen, Roma und Sinti, Menschen, die jüdisch/muslimisch sozialisiert sind oder sich aus diesen Kulturen heraus positionieren, Menschen, die körperlich von der Normzuschreibung abweichen, neurodiverse Menschen sowie Menschen, die kollektiv schreiben. Wir baten sie, uns Prosa-Beiträge zu schicken.

Es erreichte uns eine beträchtliche Anzahl an Texten und mit ihnen die Lebensläufe vieler interessanter Personen. Die Hürde, die sich uns stellte, war die Auswahl. Ein unangenehmes Hindernis: Wo die Kriterien festlegen, wie entscheiden, was veröffentlichen, was nicht? Schnell mussten wir erkennen, dass es kein Zufall sein konnte, dass wir unabängig voneinander zu nahezu denselben Entscheidungen gelangten, was die Güte der Texte betraf. Alle drei waren wir letztlich von unserem Studium an Schreibschulen geprägt, bestimmten Stilmerkmalen den Vorzug zu geben. So trafen wir diesbezüglich die einfachste, wenn auch lektoratstechnisch die arbeitsaufwendigste, Entscheidung: Wir nehmen alle und versuchen aus jedem Textpotential das Maximum herauszuholen. Natürlich bezog sich das auf unsere Vorstellung des Maximums, die letzte Entscheidung überließen wir aber den Autor_innen. Möglich war dies überhaupt nur, aufgrund der überschaubaren Anzahl an Einsendungen. Sie lag im Rahmen unserer zeitlichen Kapazitätsgrenzen. Wie die Situation für PS3 aussehen wird, bleibt offen.

Denn auch schon dieses Mal fanden wir uns in neuen Rahmenbedingungen wieder. Das erste halbe Jahr arbeiteten wir nicht mehr in fast täglichen Treffen, sondern hielten Telefon-Redaktions-Konferenzen zwischen Berlin, Leipzig und Wien ab. Rückblickend lässt sich sagen, dass die wundersamen Bedingungen, die PS1 ermöglicht hatten, nun in Zeit und Raum und Ökonomie verschoben waren. Andere Lohnarbeitsbedingungen und unterschiedliche Ausbildungsorte führten zu knapperen Zeitfenstern und aufwendigerer Termin-Koordination. Die kontinuierliche Arbeit an PS2 verdanken wir nicht zuletzt den unsichtbaren Helfer_innen, denen die Danksagung gewidmet ist.

Besonders happy sind wir darüber, mit dieser Ausgabe das Projekt einer Kommilitonin, Lara Hampe, unterstützen zu können. Sie leitete über das Jahr 2015/16 einen Kurs zu kreativem Schreiben in der Justiz-Vollzugsanstalt Leipzig. Aus diesem Kurs entstanden Texte, die in der PS2 erscheinen.

Unsere Pläne sind nicht kleiner geworden, wir sind weiterhin dabei, Fundamente zu legen und freuen uns über das, was geschafft ist. Wir sehen ein, dass Netzwerke, die das Wesen des Literaturbetriebs verändern sollen, länger brauchen, als ein Jahr. In einem Jahr tut sich viel. Wir sind gespannt, was das nächste bringt.

Mit solidarischen Grüßen,

die PS-Redaktion