Sichere Zukunft im Gewerbehof

 

1980

Als Richard Sandersons Reality sich in die Küchen- und Autoradios spielte, steckte Ulrike Paschulkes Kopf mit den Köpfen ihrer Polit-Freundinnen zusammen.

In Antjes Bauch strampelte das zweite Kind, während ihr erstes zwischen den Stuhl- und Frauenbeinen herumtobte. Brause schwappte über, ein Bier kippte, der Aschenbecher rutschte über die Tischkante. Kippen und Staub segelten in Friedas Haare, die gerade ihren Kopf unterm Tisch hervorschob. Irmgard kreischte, riss eine Hand vor den Mund. Heide klopfte mit ihrem Zeigefinger wie eine Richterin mit dem Hammer auf die Pressspanplatte: „Meine Damen, Ruhe bitte.“
Frieda quäkte. Heide beugte sich zu ihr hinunter, ihre Haarspitzen berührten den Betonboden: „Du auch, junge Dame“, sagte sie und lehnte sich zurück, atmete hörbar in die Stille: „Was ist das für ein Chaos?“
Antje platzte heraus: „Ich nenne es Leben.“
Sigrid zog eine Augenbraue hoch: „Leben mit Kindern vielleicht. Meins sieht anders aus. Und ich erinnere nur an das Plenum vor zwei Wochen.“
„Ich musste was sagen!“, verteidigte sich Antje. „War doch wirklich bescheuert, wie Tschechov sich aufgeregt hat, dass wir uns nicht an solch trivialen Fragen wie: Wer kocht und wer redet wann? zerschlagen sollten.“
„Seine Stimme kannst du wirklich gut“, sagte Ulrike und sprang auf, um sich zwischen Sigrid und Antje zu drängen: „Siggi, willst du noch eine Brause oder lieber Schnaps? Komm, nimm doch einen.“
Ulrike holte fünf Eierbecher aus ihrem Buffet und den Korn aus dem Eisfach. „Wer will noch? Antje?“
„Ja, einen doppelten.“
„Heide?“
„Ja, danke.“
„Irmgard?“
„Wie spät ist es denn?“
„Schnapszeit! Irgendwas nach 13 Uhr. Also?“ Ulrike stellte ihr schon einmal einen Becher hin, aber Irmgard biss in ihre Fingerknöchel, schaute in die Eierbecher, leckte sich über die Lippen: „Einen halben, okay. Aber wirklich nur einen Fingerhut voll.“
„Gut, das hätten wir.“ Ulrike drängte ihren Po aufs Sofa zwischen Antje, den Bauch und Sigrid: „Prost, auf uns und die schöne Zeit!“
Antje ergänzte: „Das Leben.“ Und Heide: „Die Zukunft.“
An diesem Tag, in dieser Runde, beschlossen sie im Fünfer-Konsens, frauenbewegt und solidarisch wie sie waren, dass sie nicht wie ihre Mütter heimlich lieben und leise über die Alltagsenge schimpfen würden, und dass sie zusammen alt werden wollten.

 

2015

Heide hatte geladen. Die Zimtschnecken dampften in den Sommernachmittagsgarten, während die fünf strumpfhosenbebeinten Frauen in ihren Teetassen rührten. Letztes Frühjahr hatten sie eine Hausgruppe gefunden, im vergangenen Sommer war ihnen dort eine Etage angeboten worden, aber die Jahreslose und Lottoscheine hatten nur Klimpergeld eingebracht: Dem Gruppenkredit wurde nicht stattgegeben! Ulrike blickte in die tränensackumkränzten Augen ihrer alten Polit-Freundinnen, die sich, wie sie soeben erfuhr, bereits um Altersalternativen bemüht hatten. Mit zitternden Knien erhob sie sich aus dem Schwinger, reckte noch einmal ihre Faust in die Luft und knallte mit der Gartentür.

Zu Hause kochte sie vor Wut Teewasser auf und schaltete das Radio ein. Ein Moderator plärrte sich in Sandersons Worte Perhaps that’s my reality: „Das Wohnprojekt für DICH: Egal ob DU alt, gebrechlich, jung geblieben oder kindisch bist, bei uns wirst DU deinen vierten Frühling, deinen dritten Herbst verleben, kurz: das ganze Jahr über Herzenswärme erfahren.“ Ulrike kippte aufs Sofa, als pieke ihr jemand einen Zeigefinger in den Brustkorb. „Bleib DU selbst bis in den Tod in der Sicheren Zukunft.“ Sie schaltete das Radio ab und ihren Rechner an, suchte und fand: Informationsbroschüren, Anmeldeformulare und Termine. Sie schnappatmete, als ihr Blick auf das Datum der nächsten Versammlung fiel: heute!, und die Uhrzeit: in drei Stunden!

Geblümt und gelockt schob sie sich in die Masse der Wartenden beim Nachbarschaftsheim. Die Dame vom Empfang griff ihre Hand: „Um die Quote zu halten brauchen wir noch Alte. Was motiviert Sie mitzuwirken?“ Ulrike schluckte, posierte, als wäre ein Kamerateam anwesend: „Ich möchte mit Jüngeren leben, alt werden wir von allein, nicht?“ Die Dame kritzelte in ihren Block, nickte, schaute auf, kritzelte weiter. Dann hielt sie inne: „Sehen und hören Sie sich um! Wie alt sind Sie?“
„Zweiundsiebzig. Und Sie?“
„Ich notiere. Was? Ach so! Irgendwas zwischen dreißig und vierzig.“
Ulrike schob sich in die stickige Luft des Plenarsaals. Ein Bursche mit Hut tippte ihr auf die Schulter: „Kommen Sie, mein Stuhl ist gerade frei geworden.“ Ulrikes Po fand das Sitzpolster. Die nächsten drei Stunden saß sie bequem, während der Bursche mit eingezogenen Schultern an die Wand gelehnt blasser wurde. Irgendwann war sein Gesicht so weiß, dass Ulrike ihm auf die Schulter tippte: „Wollen Sie die 110 sprechen?“ Er verneinte, seufzte erleichtert, als der Stuhl neben ihm frei wurde. Ulrike winkte und zwinkerte ihm zu. „Zum nächsten Montag bereiten Sie sich auf ein Bewerbungsgespräch mit allen vor. Punkten können Sie mit Zeugnissen zu Ihren sozialen Kompetenzen und Fertigkeiten seitens Ihrer Arbeitgeber.“ Ulrikes Finger zitterte in der Luft: „Ich bin Rentnerin.“ Der Moderator räusperte sich, tuschelte nach hinten: „Ihnen können Eltern, Verwandte und Freunde Zeugnisse ausstellen.“ Ulrike und drei andere Grauköpfe nickten. „Fragen? Nein? Beim nächsten Mal werden Sie auf Herzkatheter und Spenderniere geprüft. Tschüss dann!“

An einem Mittwochvormittag klingelte Ulrikes Telefon: „Frau Paschulke, das Überbelegungsproblem hat sich gelöst. Die zwei anderen Alten haben ihre Wohnungen nur in Kurzzeit beansprucht. Gott habe sie selig! Sie sind die Nächste auf unserer Liste. Der Grundriss entspricht nicht Ihrem Wunsch, ich sage mal so, er ist ein bisschen kleiner, aber die Gemeinschaftsräume sind groß, die Aussicht weit, was die Enge wettmacht. Wollen Sie?“ Ulrike schluckte.
„Sie haben dreißig Sekunden. Ab jetzt! Die Wartelisten sind lang. Sie kennen ja den Andrang. 23. Aber Sie sind die Erste. 19. Alles noch ganz frisch. 15. Exklusiv sozusagen. 11. Gleich ist die Zeit um. 9. Einfach so aus dem Bauch heraus. 5. So, noch einmal tief Luft geholt. 1. Und, wie lautet Ihre Antwort?“ Ulrike presste Augen und Zähne zusammen: „Ja. Ja! Haben Sie genug Geschirr und Bücher?“
„Frau Paschulke, bringen Sie doch erst einmal alles her. Wir schauen die Sachen dann durch.“

Als Heides Saab die Auffahrt hinaufrollte, winkte die Chefin der Sicheren Zukunft mit großer Geste ihr Personal heran. Aus dem Foyer eilten drei Mitarbeiterinnen mit drallen Armen und kräftigen Waden und griffen sich Ulrikes Umzugskartons aus Heides Kofferraum. Eine zog die Villeroy-und-Boch- Kaffeekanne aus einer Kiste, die andere das Fabergé-Ei. Damit waren Ulrikes Schätze gehoben. Dann erst trugen sie die Kisten ins Haus. „Neben den Meiers, ne?“, fragte eine. „Sind das die, die tagsüber immer so lärmen und wo nachts der Alte schnarcht?“, fragte die andere. Die Dritte tippte sich drei Mal mit dem rechten Zeigefinger an die Lippen und nickte.

Ulrike schob die Tür zu ihrem neuen Zuhause auf. Es erinnerte an einen Raubtierkäfig. Bewegungslos standen sie und ihre vier Freundinnen in der neuen Wohnung. „Einen weiten Blick haben sie mir versprochen“, sagte Ulrike, ehe sie die geblümten Vorhänge zur Seite schob: „Seht und staunt!“ Gespannt betrachtete sie die anderen, deren Münder aufklappten, während sie zurückwichen. „Was sagt ihr?“ Die Sicht spannte sich kilometerlang über einen Gewerbepark mit Flachbauten. Auf den Dächern waren Hochwerbungen für Kaffee, Baumaterialien und Kekse montiert. „Kekse … da bekomme ich gleich Appetit. Kommt, ich koche uns einen Kaffee. Mir nach“, sagte sie und reckte einen Arm in die Luft wie die Reiseleiterin von Seniorinnenfahrten ihren Schirm.

Der einzige nutzbare Gemeinschaftsraum war die Kellerküche, die Ulrike an ihren letzten Krankenhausaufenthalt erinnerte. Das Licht aus Neonröhren flackerte und surrte, die Wände verputzt in Perlgrau, das Linoleum in gemuscheltem Braun. Ein kleiner Tisch, vier Klappstühle, ein Wasserkocher. Im Hängeschrank vier Tassen, vier Teelöffel. Das bei den Mitarbeiterinnen geborgte Kaffeepulver, überreicht mit den Worten: „Beim nächsten Mal kostet’s fünf Euro“, war gerade genug für vier Tassen dünnsten Nachmittagskaffees. „Eine Tasse und ein Stuhl fehlen“, sagte Irmi, und Heide winkte ab: „Ich stehe, und Kaffee vertrag ich sowieso nicht mehr.“

Antje reichte Ulrike die vier Tassen aus dem Hängeschrank, die diese auf den Tisch knallte. Danach platzierte sie ihre Freundinnen Stuhl für Stuhl. Heide lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand.
Nachdem Ulrike ihren letzten Schluck heruntergestürzt hatte, fragte sie: „Wollen wir?“ Die anderen schlürften ein Schlückchen Krümelplörre ab und standen auf. Ulrike spülte die Tassen, stellte sie tropfend zurück in den Schrank. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie ins Erdgeschoss. Dort winkte Ulrike den davonhastenden Freundinnen und fuhr dann weiter nach oben in den dritten Stock, wo sie die Längen ihrer Wohnung abzuschreiten begann, bis die Abendbrotglocke schellte.

Herr Meier winkte, aber der war alt. Ulrike schaute: „Na ,Oma?“, sagte ein Lauter. Sie setzte sich dazu.
„Ulrike. Du darfst Ulrike sagen. Ulrike, Sie!“
„Wie du meinst.“
„Ulrike und Siezen, hast du doch bestimmt schon mal gehört? Wie du, Herr Lehmann, nur umgekehrt!“
„Boa, du kennst Herr Lehmann? Tschuldigung, wollen Sie einen Tee?“
„Ja, mit Schuss. Essen hole ich mir allein, danke.“

Nach dem Abendbrot setzte sich Ulrike auf ihren Balkon und schaute in die Lichter des Gewerbehofs. Der Laute gefiel ihr, Likör schmeckte überall, und wenn erst die Geranien blühten … Ulrike rülpste leise und kicherte, als die Sonne orangene Streifen über den Himmel zog.

 

Lektorat: Yael Inokai & Carolin Krahl

Prosa#6PS