Gerda

 

Hallo E.,
ich konnte dir nicht früher antworten. Die Festplatte meines Laptops war kaputt. Ich habe sie reparieren lassen und selbst wieder eingebaut. Das hat meine Zeit beansprucht.
Schön. Ich hole dich dann kommenden Dienstag um 10:11 Uhr am Bahnhof in Unteroberhausen ab. Bis dahin. Deine – nicht glückliche – Gerda: An meinem Fahrrad ist die Kette rausgesprungen. Das muss ich reparieren, bevor die Sonne untergeht.

Liebe Gerda,
oh je. Das tut mir aber leid und wow, Respekt! Ich könnte weder mein Rad reparieren noch eine Festplatte einbauen. Ich bewundere dich sehr … Hoffentlich hat mit dem Fahrrad alles geklappt? Dann bis kommenden Dienstag am Bahnhof in Unteroberhausen. Ich freu mich schon sehr auf dich!


Gerda hatte ihre geschlechtsangleichende Operation einen Monat vor meiner Geburt, in den 1980er Jahren. Damals war sie 40 Jahre alt. Eine Transition – egal ob mit oder ohne Operationen – ist auch heute noch ein ziemlich mühseliger Weg, aber damals … Darüber hinaus war sie schon zu dieser Zeit in feministischen Räumen aktiv und – so erzählte mir unsere gemeinsame Bekannte – eine sehr beeindruckende Frau. „Du erinnerst mich an sie“, sagte Heike und fügte beiläufig hinzu, dass sie sich seit Anfang der 90er nicht mehr gesehen hätten.
Seit einigen Wochen schrieben Gerda und ich Mails hin und her, in denen ich meine Begeisterung, ihr zu begegnen, kaum verbergen konnte, sie im Gegenteil mit viel Pathos so zum Ausdruck brachte: „Wow! Du hast die GA-OP im Jahr meiner Geburt gemacht! Wie sehr mich das rührt. Hätte ich doch nur damals schon von Frauen wie dir gewusst!“ Abgesehen davon, dass unklar bleibt, was ein gerade geborenes Kind mit einer solchen Information hätte anfangen sollen, fanden meine euphorischen Worte keinerlei Widerhall in Gerdas Antworten. Sie erzählte lieber von Akten der Alltagsbewältigung, von Fahrradketten und kaputten Festplatten.
Im Zug nach Unteroberhausen notierte ich folgende Worte, von deren Überschwang vermutlich Gerdas Kaffee bitter geworden wäre. (Bitterer Kaffee war ein Alltagsproblem, von dem sie mir bereits berichtet hatte.)
Gerda ist meine Vergangenheit, denn sie war vor mir da und bereitete zusammen mit anderen den Weg, auf dem ich nun gehe. Und sie ist meine Zukunft, denn in ihr werde ich die Möglichkeit sehen, als transgeschlechtliche Frau zu altern.
In meinen Fantasien sah ich Gerda einen Hut tragen. Ich stellte mir vor, wie sie mich in einem kleinen grünen Fiat vom Bahnhof abholen würde. Wir würden zu ihrem Haus mit Garten fahren. Ihre Partnerin – Heike hatte erzählt, dass Gerda eine Freundin hätte – würde uns die Tür öffnen, und der Tee stünde schon dampfend auf dem Tisch. Ich erwartete feministische, kämpferische Geschichten aus den 80ern und 90ern, in denen Gerda als transgeschlechtliche Frau in erster Reihe mitgefochten hatte, und aus denen sie, besagte Partnerin an ihrer Seite, mit zunehmenden Alter in eine beschauliche Ruhezeit übergegangen war.
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei der Partnerin um eine Nachbarin, eine von wenigen im Dorf, die mit Gerda eine freundschaftliche Beziehung pflegt. Der grüne Fiat, mit dem Gerda mich vom Bahnhof abholt, ist das alte Klapperrad, dessen Kette immer wieder rausspringt. Das Haus mit Vorgarten ein sozialer Wohnbau. Ihr Hut eine selbstgestrickte Mütze. Und der bittere Kaffee ist nicht von einer Gourmet herbeilamentiert, sondern schlicht der billigste Kaffee von Aldi. Gerda lebt von Mindestrente. Bereits Anfang der 90er Jahre, kurz nachdem ihr Kontakt zu Heike abgerissen war, wurde sie aus ihren feministischen Zusammenhängen rausgeschmissen, da ihr Frausein nicht als solches akzeptiert wurde. So hangelte sie sich den Rest ihres Berufslebens von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten und landete schließlich in Unteroberhausen. Allein und arm: Ihr fehlen etliche Zähne, deren Ersatz sie nicht bezahlen kann, und die eine Tasse Kaffee, die sie mir anbietet, ist schon ein großes Opfer an die Gastfreundlichkeit.
Ich nehme Platz auf einem kleinen Klappsofa, Gerda setzt sich auf ihren Schreibtischstuhl. Viel mehr Sitzmöglichkeiten bietet die Wohnung auch nicht. Es riecht nach kaltem Rauch und Oma. In der Oberstufe jobbte ich nebenher bei einem sozialen Träger als Beifahrerin. Wir fuhren Menschen zur Dialyse, ins Krankenhaus, zum Arzt und ins Altenheim. Meine Aufgabe war es, beim „Einladen“ der Patient*innen zu helfen und ihnen während der Fahrt Gesellschaft zu leisten. In den Wohnungen älterer Frauen lag häufig der gleiche eigenartige Geruch in der Luft, der mir jetzt auch bei Gerda, nur eben vermengt mit altem Rauch, in die Nase steigt. In meiner Fantasie vom Altern als transgeschlechtliche Frau tauchten viele Dinge auf, nur nicht ein alter Körper.
„Und die da, die war Schriftführerin. Aber wie die sich anzog! Da konnte ich wirklich verstehen, dass die Feministinnen uns nicht mochten. Netzstrumpfhose und Ledermini in Leoprint. Fuuuurchtbar.“ Gerda greift sich mit der Hand an den Kopf und schüttelt ihn ungläubig. Wir sehen uns ein Fotoalbum aus Gerdas Bewegungsgeschichte an. Ende der 1980er Jahre war sie in einem Verband für Transsexuelle organisiert, von dem es ein Gruppenfoto in ihr Album geschafft hat. Viel Liebevolles hat sie über den Verband nicht zu sagen, nur dass die Outfits mancher eben zweifelhaft waren und sie sich am Ende zerstritten hätten. Die waren damals genauso unfähig wie wir heute, denke ich, verkneife mir aber jeden Kommentar. Gerda schimpft weiter über all die transsexuellen Frauen, die veraltete Weiblichkeitsbilder reproduzieren, sich schminken und mit Röckchen durch die Gegend wackeln. „Das kann es doch auch nicht sein, wofür man die Transition macht. Nur in die nächste Schublade rein.“ Ich zupfe etwas beklommen mein neues Spitzenkleid zurecht und frage mich, ob ich den roten Lippenstift lieber nicht hätte auflegen sollen. „Naja. Egal. Ist ja schon lange her. Hast du Einnamedenichnichtkenneundauchnichtverstehe gelesen?“ Es folgt eine sehr lange Ausführung zu den feministischen Analysen von Einnamedenichnichtkenneundauchnichtverstehe. Ich muss ziemlich ratlos hinter meinen XXL-Volume-Mascara-Wimpern hervorblinzeln, denn mit strengem Blick macht Gerda eine Pause. „Kind, lies deine Lektüre.“ Sie reicht mir ein Glas Wasser.
Gerdas Körper ist muskulös und gleichzeitig mollig. Ein bisschen wie meiner, denke ich. Ihre Brüste sind riesig – anders als meine – und hängen ihr bis zum Bauch. „Sind aber nicht operiert!“, sagt sie und entblößt bei einem stolzen Lächeln ihre wenigen übriggebliebenen Zähne. Es folgt eine ausführliche Berichterstattung ihrer medizinischen Transition in den 1980er Jahren und eine Liste der Hormone und Medikamente, die sie heute einnimmt. Das passiert irgendwie immer: Setzt man zwei transgeschlechtliche Frauen – die medizinisch transitioniert sind – an einen Tisch, tauschen sie sich ziemlich bald über ihre Hormondosis und die Auswirkungen auf ihren Körper aus. Ich spüre die bekannte Ambivalenz von Langeweile und Neugierde in mir aufsteigen. Vielleicht will ich doch wieder mehr von Einnamedenichnichtkenneundauchnichtverstehe erfahren? Immerhin ist Gerda eine belesene und kluge Frau, die mehr zu erzählen hat als Geschichten von Östrogen und Progesteron. Andererseits: Wie oft trifft man schon andere transgeschlechtliche Frauen? Erst recht aus einer anderen Generation? Die dann auch noch vor so langer Zeit bereits transitionierten? Ich versinke im Anblick von Gerdas Körper. Lese in seinen Kurven und Runzeln Geschichten. Sie erzählen von Therapien und Ärzten. Von Untersuchungen und Operationen, neuen Hormonen und Krankenkassenrichtlinien. Von harter Arbeit und viel zu wenig gutem Sex.
Ich fühle mich abgestoßen, will raus aus der schäbigen Wohnung. Weg von einem Körper, der gezeichnet ist von Einsamkeit und Armut. Meine Vergangenheit in Gerda interessiert mich nicht mehr, und die Zukunft will ich lieber in meinem Kopf belassen, wo alte transgeschlechtliche Frauen stolz auf ihre Leben zurückblicken, Hüte tragen und Champagner trinken. Sie sollten endlos viele Freund*innen haben, mit denen sie sich Geschichten von früher erzählen und dabei schallend lachen, statt nur vergilbte Fotoalben herzeigen zu können, die von einer traurigen Zeit und längst verblassten Freundschaften zeugen, auf die keine neuen folgten. Und ich finde, sie könnten auch knallroten Lippenstift tragen, der sich auf ihren Zähnen verteilt. Ihre Partner*innen würden sie dann liebevoll in die Seite stupsen und ein vertrautes Zeichen geben, das sagt: „Wie immer mehr auf der linken Seite oben, Liebste.“
Die Ähnlichkeit unserer Körper, die fast ein halbes Jahrhundert voneinander trennt, in ihrer Erfahrung aber doch so verbunden sind, überfordert mich. Es ist, als würde sich mein Körper in ihrem spiegeln, nur zeigt mir die Reflexion mit jeder ihrer Falten die Wiederholung des Scheiterns: an sich selbst, der Gesellschaft, den anderen. Wir rauchen eine Zigarette. Ich verfolge Gerdas Bewegungen, sehe mich in ihrer Wohnung um, schaue nochmal ins Fotoalbum. Irgendwas muss es doch geben, was es erstrebenswert macht, als transgeschlechtliche Frau zu altern.
Seit wann bin ich so unfähig, mit der Realität umzugehen? Was hatte ich denn erwartet von einem Treffen mit einer älteren und lesbischen und transgeschlechtlichen und Frau? Altersarmut und Einsamkeit wären doch das Mindeste, womit ich als Feministin hätte rechnen müssen. Stattdessen sitze ich hier, trinke Gerdas Kaffee weg und bin enttäuscht davon, dass sie real ist.
Zum Abschied schenke ich ihr meinen Tabak. Im Zug zurück nach Hause weine ich.

„Weißt du eigentlich, was ich am meisten an dir hasse?“ Seit meinem Besuch bei Gerda sind einige Wochen vergangen. Ich sitze mit meiner Freundin Malou in ihrer Küche. Wir trinken Tee und sind beide noch ganz aufgelöst von unserem Streit, der, wie so viele zuvor, unerklärlich und aus dem Nichts heraus regelrecht über uns gekommen war.
Malous Haut ist übersät von roten Flecken. Immer wenn ihre Gefühle in Wallung geraten, verwandelt sich ihr Körper in eine Landschaft brennender Inseln. Wenn das passiert, muss man sich davor hüten, die Flecken anzuschauen, oder zumindest sollte man sie nur so anschauen, dass Malou es nicht merkt, sonst kann sie richtig in Rage geraten. Diese Verletzlichkeit ist für sie kaum aushaltbar. „Als wäre gerade ich nicht ohnehin schon viel zu sichtbar für diese Welt! Dann muss mein Körper auch noch meine Gefühle preisgeben. Das ist zum Kotzen.“ Mit ihren feuerroten Flecken am Hals und im Gesicht sieht sie wie ein lieber Drache aus, jetzt, wo unser Streit sich beruhigt hat und wir versuchen, einander zu verstehen. Malou und ich haben uns vor zwei Jahren auf einer Soliparty kennengelernt. Ich stand hinter der Bar und sie lehnte – ein bisschen sehr cool – an der Wand auf der anderen Seite der Tanzfläche. Ihr Outfit erzählte die Geschichte einer Frau, die mit großer Liebe zu femininer Ästhetik auf die Welt gekommen ist und detailgenau beobachtet: Stoffe, Formen, Muster, Stile. Alles war darauf abgestimmt, ihr das größtmögliche Wohlgefühl zu verschaffen. Der Genuss, mit dem sie sich in ihrer Kleidung zu bewegen vermochte, verlieh ihr eine solche Eleganz, dass der Raum ohne Widerstand ihr gehörte. Ich wollte mit ihr befreundet sein, und so nutzte ich meine Position an der Bar und ihre Schwäche für Gin Tonic, um sie etwas kennenzulernen. Nach meiner Schicht tanzten wir gemeinsam die Nacht durch, und in den folgenden Monaten wurden wir die besten Freundinnen. Ich war wohl noch nie so sehr freundschaftlich verliebt gewesen wie zu dieser Zeit in Malou. Aber nach einer Weile begannen unsere zahllosen, aus dem Nichts auftauchenden Streits. Jeder einzelne von ihnen fühlte sich für den jeweiligen Augenblick schrecklich existentiell an.
„Dass ich so abhängig bin von dir! Es gibt keine Frau in meinem Leben, die mir auf so grundlegende Weise ähnlich ist wie du. Wir sind überhaupt so wenige, und mit den anderen transgeschlechtlichen Frauen, die ich kennengelernt habe, ist keine Freundschaft entstanden. Für die meisten normalen Frauen“, Malou rollt die Augen, „bin ich letzten Endes immer irgendwie die Andere. Sie haben ihre Narrative vom Frausein, die ihr ganzes Leben lang mit den Frauen um sie herum und den Generationen von Frauen vor ihnen gewachsen sind. Ihre Räume, zu denen sie qua Natur einfach dazugehören. Das mag scheiße sein, aber ey: Sie haben immerhin das! Ich bin irgendwie nur zu Gast. Gehöre dazu, weil es mir derzeit eben erlaubt wird. Aber es gibt ein Schweigen um mich, denn ich kann nur dazugehören, solange nicht alles von mir sichtbar wird. Nur, wenn ich mich in ihre Narrative einreihe und gleichzeitig brav die Andere bleibe, gelte ich als passabel.“ Ich muss lachen, streue eine kurze Abhandlung zur Verschiebung der Semantik des Wortes Passing ein, wenn man es zu dem deutschen Wort ‚passabel‘ in Bezug setzt – und ernte für dieses intellektuelle Gegockel einen genervten Blick. Da die roten Flecken gerade erst verschwunden sind, entschuldige ich mich leicht betreten und höre wieder zu. „Nur mit dir ist es anders. Durch dich habe ich erfahren, was es heißt, eine Freundin zu haben, die mir so ähnlich ist. Und dafür, dass es nur dich gibt, hasse ich dich ein bisschen. Was passiert, wenn wir uns verlieren?“ Meine Augen füllen sich mit Tränen. Malou zu verlieren … Allein die Vorstellung zerreißt mir das Herz. „Und dabei gab es uns schon immer“, sage ich, und wir nehmen uns fest in die Arme.

Liebe Gerda!
Entschuldige, dass ich dir erst jetzt schreibe. Während unseres Treffens in Unteroberhausen sprachst du von deiner Autobiografie, die du gerade fertigstellst. Wenn du magst, schick sie mir gerne zu, dann lese ich gegen. Und sag mal, könntest du mir nochmal den Namen der feministischen Autorin verraten, von der du erzählt hattest? Und vielleicht auch das Werk, das dich am meisten beeindruckt hat.
Liebst, E.

Hi du!
Kommenden Mittwoch bin ich in deiner Stadt. Wenn du Zeit hast, lass uns doch einen Kaffee trinken, dann bringe ich dir meine Autobiografie auf einem Stick und das Buch mit.
Beste Grüße,
Gerda


Das wäre toll! Wie wäre es dann um 16 Uhr?
Ich freu mich schon auf dich.
E.

 

Lektorat: Carolin Krahl und Yael Inokai

Prosa#6PS